AUF DICHTERSPUREN


 

AUSZUG aus:
Thomas Berger, AUF DICHTERSPUREN. Literarische Annäherungen
Illustrationen: Denis Mohr, edition federleicht, Frankfurt am Main 2020,
464 Seiten, ISBN 978-3-946112-52-5

ABSTIEG
Kurzgeschichte Wo ich wohne

„Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (1) So beginnt Franz Kafkas (1883−1924) Roman Der Prozeß, den er 1914/15 schrieb. Etwas völlig Unerwartetes, gänzlich Unverständliches bricht in das Leben eines Menschen ein. Erwartet die Leser Aufklärung? Blicken wir auf den Schluss, das zehnte Kapitel des Romanfragments. Zwei Vertreter der Behörden – „bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Zylinderhüten“ – holen Josef K. aus seiner Wohnung ab. Was folgt, liest sich so: „Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger. Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte.“ (2)

Die Worte Kafkas, dessen Nachlass zu verbrennen sein Freund Max Brod (1884−1968) glücklicherweise ablehnte (3), wirken nach, graben sich ein. Das empfindet auch der zeitgenössische Autor Peter Handke (geboren 1942), der in seinem Journal Das Gewicht der Welt (1979) bemerkt: „Kafka lesen: Man muß sich seine Sätze nicht merken (man kann seine Sätze sofort vergessen, das ist das Schöne an ihnen, sie bleiben doch da, auch wenn man sie vergißt.“ (4)

Ein knappes halbes Jahrhundert nach der Niederschrift dieses Romans erschien Ilse Aichingers Erzählung Wo ich wohne (1963). Sie erinnert mich an das Schicksal Josef K.s; denn auch hier ist von höchst Ungewöhnlichem, vollkommen Unbegreiflichem die Rede.

Aichinger – Österreicherin wie Handke – lässt in ihrer Kurzgeschichte eine namenlose Ich-Person ein Geschehen schildern, das, ähnlich dem in Kafkas Roman, einem Albtraum gleicht. Ob es sich dabei um die Realität, einen Traum oder ein innerpsychisches Erleben handelt, wird erfreulicherweise nicht geklärt. So entstehen geistige Freiräume für die Leser.

Was ereignet sich zwischen dem für die Gattung Kurzgeschichte unvermitteltem Einstieg und dem offenem Ende? „Ich wohne seit gestern einen Stock tiefer“, lautet lakonisch der erste Satz. „Jetzt ist es zu spät“ – mit diesen Worten entlässt uns die Erzählung. Zum Inhalt: Die Hauptperson besucht am Abend vor dem „Abstieg“ ein Konzert. Bei der Rückkehr befindet sich ihre Wohnung statt wie gewohnt im vierten im dritten Stock, und, mirabile dictu oder horribile dictu: Die Figur findet keinerlei Veränderung des Inneren vor. Selbst der Student, ein Untermieter, „atmet tief und gleichmäßig“. Das Ich, dessen Geschlecht nicht genannt ist, wirkt keinesfalls gestört oder gar verrückt, handelt durchaus vernünftig: Es überprüft die Namensschilder an den Wohnungstüren, überlegt, „was morgen werden soll“ und sagt sich realistischerweise, dass niemand, weder die Nachbarn noch der Student, eine plausible Antwort zu geben vermöchte, fragte es nach dem überaus seltsamen Vorkommnis. „So bleibt mir“, heißt es im Text, „nichts übrig, als so zu tun, als hätte ich mein Leben lang schon einen Stock tiefer gewohnt“.

Auffällig ist die mehrmalige Erwähnung der Schwäche der Person. Sie kann nichts unternehmen, fühlt sich der Situation hilflos ausgeliefert. So ist es auch im zweiten Teil der kurzen, stark verdichteten Geschichte. Der Abstieg wird nicht Schritt für Schritt, also Stockwerk für Stockwerk geschildert. Vielmehr lesen wir: „Ich wohne jetzt im Keller.“ Wieder stellt kein anderer die gravierende Wandlung fest, weder die „Aufräumefrau“ noch der studentische Mitbewohner und auch nicht die „Kohlenmänner“. Inmitten der Unnormalität setzt der Kellerbewohner sein normales Leben fort: „Seit ich im Keller bin, bin ich ganz beruhigt und gehe um Wein, sobald ich danach Lust habe.“

Und als wäre nicht alles schon absurd und unheimlich genug, schreibt Aichinger nun: „Es wäre sinnlos, die Dämpfe im Kanal zu fürchten, denn dann müßte ich ja ebenso das Feuer in der Erde zu fürchten beginnen – es gibt zu vieles, wovor ich Furcht haben müßte.“ Kanal? Soll es noch tiefer hinabgehen, unter das Fundament des Hauses? Offensichtlich, denn der Text hält illusionslos fest: „Und selbst wenn ich immer zu Hause bliebe und keinen  Schritt mehr auf die Gasse täte, würde ich eines Tages im Kanal sein.“ Nachfragen, Einwände, Beschwerden, beispielsweise beim „Hausbesorger“, seien müßig.

Wie andere anspruchsvolle Texte fordert die Kurzgeschichte die Leser heraus. Sie müssen sich dem Offenen stellen, nachdenken, zwischen den Zeilen lesen, deuten. Möchte die Verfasserin auf das Altern, Verunsicherung, Isolationsgefühle, gestörte, gar fehlende Kommunikation, Vereinsamung, Entfremdung, Anonymität in der Massengesellschaft, mangelnde Selbstverantwortung oder soziale Abstiegsängste hinweisen? Wo ich wohne (5) gewährt Spielräume. Ilse Aichinger sei Dank!

 

 

ANMERKUNGEN:

(1)  Franz Kafka, Der Prozess. Roman, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Max
Brod, 7. Aufl., Frankfurt am Main 1980, Seite 7
(2)  a.a.O., Seiten 190 und 194
(3)  vgl. Max Brods Stellungnahme, in: Marbacher Magazin 52/1990, 2. Aufl.,
Marbach am Neckar 1991, Seiten 69−72
(4)  zit. nach: Harenberg, Lexikon der Weltliteratur. Autoren – Werke –
Begriffe, Band 3, Dortmund 1995, Seite 1556
(5) sämtliche Zitate aus: Ilse Aichinger, Wo ich wohne, in: Die größere
Hoffnung. Roman −  Meine Sprache und ich. Erzählungen – verschenkter
Rat. Gedichte, Frankfurt am Main 1986, Seiten 307-311