AUSLEIHE


Thomas Berger
 

AUSLEIHE

 

Kennen Sie dieses mulmige Gefühl, wenn Sie wieder einmal entdecken, dass in Ihrer mit Leidenschaftaufgebauten, wohlgeordneten Bibliothek eine Lücke klafft? Nein, ich meine nicht die durchaus desÖfteren schmerzlich festzustellende Tatsache, ein interessantes Buch nicht erworben zu haben, sondern den Umstand, dass Sie zwar – juristisch gesprochen – Eigentümer gewisser Bände sind, dieseaber keineswegs besitzen, also – wiederum im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches – mitnichtendie Herrschaft über sie ausüben. Wie kann es sein, frage ich mich von Zeit zu Zeit aus gegebenemAnlass – und haben Sie sich vielleicht gelegentlich gefragt –, dass ein Buch nicht an dem ihm sorgsambestimmten Platze steht? Warum gähnt dort, wo sich Eigentum befinden sollte, eine Lücke?

Habe ich das vermisste Werk womöglich selber entnommen und, was nicht gänzlich ausgeschlossenwerden kann, an einer nicht mehr erinnerlichen Stelle der Wohnung abgelegt? Ich durchsuche mithinmein Heim und gelange in den allermeisten Fällen zu dem enttäuschenden Ergebnis, dass nirgendwodas gesuchte Buch zu finden ist.

In solchen Momenten blitzt die Erkenntnis auf: Ich muss es verliehen haben. Ich habe erneut eineSchrift verliehen! Und dann schießen altvertraute Fragen ins Kraut: Wem habe ich sie ausgeliehen?Wann geschah es? Warum habe ich sie nicht zurückbekommen? Was soll ich jetzt tun, um wieder rechtmäßiger Besitzer zu werden?

Ich erinnere mich, vor längerer Zeit, als das missliche Geschick mir bereits mehrfach widerfahren war,sogar in einem deutschen Wörterbuch nachgeschlagen zu haben. Dort ist der Akt des Leihens präzisedefiniert: jemandem vorübergehend – also nur zeitweilig – etwas aus seinem Besitz zur Verfügungstellen.

Wie gesagt – ich hänge an meiner Bibliothek, habe viel Geld und Zeit und Liebe auf sie verwendet.Sie werden deshalb verstehen, dass jedes entschwundene Buch meinem bibliophilen Herzen einenStich zufügt.

In meinem Freundes- und Bekanntenkreis gibt es immer wieder Einzelne, die ihr Wissen um meineBüchersammlung zu nutzen verstehen, indem sie mich um eine Leihgabe bitten – mit dem regelmäßigwiederkehrenden Zusatz, sie wollten sie nur für kurze Zeit mitnehmen. Besonders gerne willige ich,zugegebenermaßen, nicht ein. Andererseits sind Bücher, sage ich mir, geschrieben worden, umgelesen zu werden. Warum also sollte ich sie nicht verleihen – zumal an Freunde und Bekannte, dieüberdies von begrenzter Dauer sprechen? So erkläre ich mich jedes Mal einverstanden. Und es dauert zumeist nur ein, zwei Tage, bis mein Gedächtnis tilgt, dass und an wen ich einen oder gar mehreremeiner Schätze ausgeliehen habe.

An dieser Stelle können Sie natürlich einwenden, dass ich endlich aus Schaden klug werden müsseund dass eine kurzzeitige Ausleihe doch kein Problem darstelle. Was den ersten möglichen Einwandbetrifft, so habe ich bisher nur angedeutet, dass ich Bücher nicht um des Sammelns willen sammle, sondern weil sie für mich Zeugnisse der Kultur sind und als solche in die Hände von Menschengehören. Ich denke also im Augenblick des Verleihens nicht an den eventuellen Schaden für mich,sondern an den Gewinn, den das Buch dem Empfänger zu bringen vermag. Und wenn Sie die kurze Dauer ansprechen, so ist diese eigentlich nie gegeben. Ich bräuchte gewiss geraume Zeit, um all dieLücken in meinen Bücherschränken zu zählen – ein Schmerz, den ich mir lieber erspare.

Nun könnte ich freilich, wenn ich ein Werk außer Haus gebe, ein Schildchen mit dem Namen desEntleihers an die offene Stelle legen. Ich könnte auch – was ich bereits getan habe – in das betreffendeBuch zwecks Erinnerung meines Gegenübers die Visitenkarte geben oder sogar sämtliche Ausgaben meiner Sammlung mit einem eigens gefertigten, künstlerisch gestalteten Zettel versehen, der mich alsEigentümer auswiese. Allein was würde das nützen?

Ich will mich einmal in den Kopf eines Menschen versetzen, der eine derartige Leihgabe erbittet. Erwill den Band nicht kaufen, ist aber an ihm interessiert. Warum aber zieht er meine Bücherwändeeinem Laden vor? Keiner meiner Freunde und Bekannten leidet Not, jeder könnte das gewünschteObjekt käuflich erwerben. Vielleicht liegt einfach Bequemlichkeit vor oder versteckter Geiz. Vielleichtsteht im Hintergrund das Wissen um den Schleier des Vergessens, den die Zeit recht bald überGeschehnisse zu breiten pflegt. Vielleicht beweisen die Entleiher aber auch Menschenkenntnis undwissen, dass es dem Leihgeber schwerfiele, nachzufragen und zu erinnern – wer möchte schonschulmeisterlich erscheinen! Es hilft auch nicht, dass eine ausgebliebene Rückgabe nahe an denTatbestand heranrückt, den das Strafgesetzbuch Unterschlagung oder Veruntreuung nennt. Soll manetwa Anzeige gegen Personen erstatten, mit denen man mehr oder weniger vertrauten Umgangpflegt? Obendrein handelt es sich nicht immer um wertvolle Objekte, so dass eine juristischeAuseinandersetzung albern wäre. Vielleicht liegt der Grund des Dilemmas aber gar nicht im Charakter des Entleihers, sondern im Buch selbst. Bücher, sagte der österreichische Maler, Graphiker und Schriftsteller Oskar Kokoschka, seien beleidigt, wenn man sie verleihe, und würden deshalb nicht mehr zurückkehren.

Sie sehen, die Sache ist zweifellos heikel. Ich habe schon das eine oder andere Mal, wenn leereStellen mich wehmütig von den Schränken anschauten, erwogen, mir grundsätzlich jedes Buch gleichdoppelt zu kaufen. Was aber, wenn bei zwei Menschen zur gleichen Zeit Interesse an einem meinerBücher bestünde?

Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als entweder kleinlich zu werden und jedes derartige Ansinnenin Zukunft abzulehnen oder weiterhin der schleichenden Erosion meines Bücherbestandes tatenloszuzusehen und Ereignissen wie dem, das sich neulich zutrug, gewärtig zu sein. Ich war zu demjährlich stattfindenden Aktionstag der Antiquariate meiner Umgebung gegangen. Als ich mich deneinzelnen Ständen hingab, entdeckte ich plötzlich in einem wertvollen Folianten, der mir nur allzubekannt vorkam, meine Visitenkarte. Sprachlos schaute ich den mir unbekannten Antiquar an.

Sprachlosigkeit herrschte übrigens auch in einem anderen Falle vor. Im vergangenen Herbst fragtemich ein befreundeter Kollege, der mich besuchte, nach einem bestimmten Buch. Ich kannte es gutund begann begeistert davon zu sprechen. Nach einer Weile unterbrach er mich und erklärteunumwunden, er habe es mir im Jahr zuvor geliehen, und bat mich, es ihm zurückzugeben. Ich fühlte,wie mir eine Röte ins Gesicht stieg, strich mit dem Zeigefinger die rechte Schläfe entlang und erhobmich.