Beitrag über Heinrich Mann (1871–1950), Schriftsteller


Beitrag über Heinrich Mann (1871–1950), Schriftsteller

Erstveröffentlichung im Biographisch-bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL), 2024

MANN, Heinrich, * 27.3. 1871 in Lübeck, † 11. 3. 1950 in Santa Monica (USA) als erstes Kind von Thomas Johann Heinrich Mann (1840–1891), Inhaber einer Speditionsfirma und Senator für Wirtschaft und Finanzen der Stadt Lübeck sowie Königlich niederländischer Konsul, und Julia Mann, geb. da Silva-Bruhns (1851–1923), Tochter eines Deutschen und einer Brasilianerin mit ausgeprägten künstlerischen Neigungen. Sie spielte hervorragend Klavier und führte ihre Kinder an die Weltliteratur heran. Die jüngeren Geschwister M.s sind der spätere Literaturnobelpreisträger des Jahres 1929 Thomas (1875–1955), Julia (Lula) (1877–1927), Carla (1881–1919) und Victor (1890–1949). Das Handelsgeschäft des Vaters sollte M. übernehmen. Seine Unlust bei dieser Aufgabe führte zu Verdruss in der Familie. 1889 ging M. ohne Abitur vom Gymnasium ab. Für kurze Zeit war er Lehrling in einer Buchhandlung in Dresden. 1890/91 leistete er ein Volontariat beim S. Fischer Verlag in Berlin. Nebenbei belegte er Kurse an der Berliner Universität. Das Todesjahr des Vaters 1891 wird auch mit dem Beginn der Schriftstellerlaufbahn M.s genannt. Nach der Liquidation der Firma siedelte er mit der Mutter und den Geschwistern 1893 nach München über; er hat Lübeck nicht mehr betreten. Sein erster Roman „In einer Familie“ erschien mit finanzieller Unterstützung der Mutter 1894. Das Werk spielt in der Dresdner Bürgerwelt und ist dem französischen Autor Paul Bourget (1852–1935) gewidmet, dessen psychologische Beschreibungen der Charaktere sowie Konservatismus M. übernahm. In den Jahren 1895/96 betätigte sich M. als Herausgeber der konservativen Monatsschrift „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“. Reaktionäre Verlautbarungen entstammten damals seiner Feder – ebensolche, die er bald mit allen seinen schriftstellerischen und rednerischen Mitteln zeitlebens bekämpfen sollte. Von 1896 bis 1898 weilte er zusammen mit Bruder Thomas in Rom und Palestrina. Muss die Italienische Reise der angehenden Schriftstellerbrüder als Flucht vor dem Protzertum des wilhelminischen Deutschlands verstanden werden – wenigstens seitens Heinrich M.s? In jedem Fall ist festzuhalten, was M. Jahrzehnte später als Ergebnis des Italienaufenthaltes in seinem Memoirenwerk „Ein Zeitalter wird besichtigt“ von sich erklärte: „Mein Talent ist in Rom geboren.“  1900 erschien „Im Schlaraffenland. Ein Roman unter feinen Leuten“. Die Satire auf das Großbürgertum Berlins markierte das Genre, das M. fortschreiben sollte: den kritischen Gesellschaftsroman. Französische Realisten wie Balzac, Maupassant und besonders Flaubert bildeten M.s Vorbilder. Doch auch die Beschäftigung mit Nietzsche vertiefte er. Der dreiteilige Roman „Die Göttinnen oder Die drei Romane der Herzogin von Assy“, erschienen im Dezember 1902, aber vordatiert auf 1903, verrät M.s Nietzsche-Lektüre. Individualismus, elitäres Lebensgefühl einer starken Persönlichkeit, die sich selbst erhöht, charakterisiert die Hauptfigur Violante. Im Jahr 1905 erschien der kleine Roman „Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“, dessen Verfilmung ein Vierteljahrhundert später Geschichte schrieb. Am Beispiel eines sadistischen Gymnasiallehrers wird die Funktionsweise ebenso destruktiver wie fragiler Macht gezeigt. Als „hohes Lied der Demokratie“ bezeichnete Thomas Mann in einem Brief vom 30. September 1909 an den Bruder den im gleichen Jahr erschienen Roman „Die kleine Stadt“, der als einer der Meisterwerke M.s gilt. Geschildert wird der Besuch einer Schauspieltruppe, die eine Oper aufführt, und die Veränderung im sozialen Gefüge der kleinen Stadt durch das Ereignis. Der Freitod der Schwester Carla (1881–1910) erschütterte M. zutiefst. Im Roman „Die Jagd nach Liebe“, erschienen 1903, hatte er Carla in der Figur der Ute Ende portraitiert, in der Novelle „Schauspielerin“ von 1906 hatte Carla mit der Hauptfigur Leonie vor seinem geistigen Auge gestanden.

1914 heiratete M. die tschechische Schauspielerin Maria Kanová (eigtl. Kahn, 1886–1947). Das Ehepaar bezog eine Wohnung in München. 1916 kam M.s einziges Kind Carla Henriette Maria Leonie Mann († 1986) zur Welt. Im Jahr der Heirat war eins der bedeutendsten Werke M.s, der Roman „Der Untertan“, beendet. Vorabdrucke hatte es 1911/12 in der Satirezeitschrift „Simplicissimus“ gegeben, eine geplante Veröffentlichung 1914 musste wegen des Kriegsausbruchs abgebrochen werden. „Der Untertan“ parodiert den Entwicklungsroman, von Kindesbeinen an lernt der Protagonist Diederich Heßling die Lektionen der Macht. Masochistisches und sadistisches Verhalten ebnen ihm den gesellschaftlichen Aufstieg. Der Roman weist prophetische Züge auf, indem er Merkmale des künftigen Faschismus vorausgedacht hat.

Unterschiedliche ästhetische und politische Grundsätze entzweiten M. von seinem Bruder Thomas, erst recht nach dem Erscheinen von M.s Zola-Essay 1915, den Thomas als Kampfansage empfand. Nach Kriegsende konnte „Der Untertan“ erscheinen und wurde zum größten Bucherfolg in M.s Schriftstellerlaufbahn, ein grandioser Schlusspunkt zum Frühwerk des Autors, in dem neben der scharfen Gesellschaftskritik der Ausnahmemensch mit hohem Lebensgefühl zentral ist. Im Werk der mittleren Lebensphase von 1919 bis 1939 entfaltete M. große öffentliche Wirksamkeit als Schriftsteller. Sein Ansehen in der Weimarer Republik, beflügelt durch den Erfolg des „Untertan“, später durch den 1930 uraufgeführten Film „Der blaue Engel“, wuchs stetig. M. profilierte sich nicht nur als Erzähler und Essayist, sondern trat als Redner auf, der die Weimarer Republik verteidigte.

Noch vor der Veröffentlichung des „Untertan“ war 1917 der Roman „Die Armen“ erschienen; zusammen mit dem Roman „Der Kopf“ von 1925 wollte M. die drei Werke als „Trilogie des Kaiserreichs“ verstanden wissen, in der ein Querschnitt der drei Schichten Arbeiterschaft, Bürgertum und (adlige) Führungsriege geboten werde. „Der Untertan“ wurde stets als künstlerisch überzeugendster Teil erachtet.

Eine lebensbedrohliche Erkrankung M.s 1922 brachte eine wenigstens äußerliche Wiederannäherung mit Thomas M., nachdem dieser ein Versöhnungsangebot des Älteren 1917 noch zurückgewiesen hatte. Erleichtert wurde der Prozess dadurch, dass der jüngere Bruder zur Selbstkorrektur bereit war, die Weimarer Republik anerkannte und die Demokratie als politisches Modell der Zukunft nunmehr begrüßte.

Die Textproduktion M.s blieb rege. Innerhalb kurzer Zeit folgten viele zum Teil umfangreiche Essays (Kaiserreich und Republik, 1919, Der Schriftsteller und der Staat, 1931 etc.), Novellen (Der Jüngling, 1924, Kobes, 1925 etc.) und Romane (Mutter Marie, 1927, Eugénie oder Die Bürgerzeit, 1928, Die große Sache, 1930 etc.). 1928 trennte sich M. von seiner Frau und siedelte nach Berlin über, die Scheidung erfolgte 1930. Die Verfilmung des kleinen Romans „Professor Unrat oder Das Ende eines Tyrannen“ unter dem Titel „Der blaue Engel“ nach einem Drehbuch von Carl Zuckmayer mit Emil Jannings als Professor Immanuel Rath und Marlene Dietrich als Tingeltangel-Sängerin Lola Lola (im Roman Rosa Fröhlich), wurde zu einem Welterfolg. Früh warnte M. vor dem Nationalsozialismus. Zusammen mit Käthe Kollwitz (1867–1945) und Albert Einstein (1879–1955) unterzeichnete er 1932/33 einen Aufruf der KPD und SPD gegen die NSDAP. Die Nationalsozialisten schlossen M. im Februar 1933 aus der Sektion Literatur der Preußischen Akademie der Künste aus, deren Präsident er seit 1931 gewesen war, seine Bücher wurden öffentlich verbrannt. M. emigrierte am 29. 2. 1933 über die Rheinbrücke bei Kehl nach Frankreich. Er sollte Deutschland nicht wiedersehen. Im August d.J. bekam er die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt.

Auch im Exil blieb M. ein Kämpfer gegen den Faschismus. Er wurde Vorsitzender des Vorbereitenden Ausschusses zur Schaffung einer deutschen Volksfront sowie Ehrenpräsident des Schutzbundes deutscher Schriftsteller (SDS). Beim Internationalen Schriftsteller-Kongress in Paris hielt er das Hauptreferat „Probleme des Schaffens und Würde des Denkens“. Vor seiner Rede erhoben sich 5000 Zuhörer von ihren Plätzen. Dass er bei dieser umfangreichen öffentlichen Wirksamkeit noch zu herausragenden Leistungen auf schriftstellerischem Gebiet in der Lage war, erstaunt. Nach Vorarbeiten in den zwanziger Jahren verfasste er von 1932 bis 1935 den Roman „Die Jugend des Königs Henri Quatre“, 1938 folgte „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“ im Amsterdamer Querido-Verlag. Das zweibändige Werk, oft als M.s Hauptwerk erachtet, kann als Gegenstück zum „Untertan“ gelesen werden: hier der gute Herrscher, der Macht und Geist verbindet; dort der egoistische und boshafte Fabrikbesitzer Heßling, der seine Arbeiterschaft schikaniert und skrupellos den eigenen Vorteil sucht.

1936 erhielt M. die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft. Am 9. September d.J. heiratete er Nelly Kröger (1898–1944), die er 1929 kennengelernt hatte. Sie stieß in M.s sozialem Umfeld als einfache Frau und ehemalige Bardame auf Vorbehalte. Ein literarisches Denkmal hatte ihr M. in der Figur der Marie Lehning gesetzt im Roman „Ein ernstes Leben“, erschienen 1932 als letztes Buch M.s vor der nationalsozialistischen Herrschaft. 1939 wurde M.s erste Frau Maria Kanová-Mann von der Gestapo in Prag verhaftet und verhört. 1942 folgte die Deportation ins KZ Theresienstadt. 1947 verstarb Maria Kanová-Mann an den Folgen der erlittenen Qualen während der Haft.

M. floh 1940 in Begleitung seiner Frau Nelly, seines Neffen Golo Mann sowie der Schriftsteller Lion Feuchtwanger und Franz Werfel über Spanien und Portugal in die USA. Dort verlebte er sein letztes Lebensjahrzehnt. Er war in den USA als Autor nahezu unbekannt und musste als Drehbuchautor für die Filmgesellschaft Warner Brothers tätig werden. Seine Frau Nelly nahm verschiedene Stellen an, um zum Einkommen des Ehepaares beizutragen, verfiel aber immer stärker dem Alkohol. 1944 starb sie durch Suizid; es war ihr fünfter Versuch gewesen. M. wurde abhängig von finanziellen Zuwendungen des Bruders Thomas, der auch in der neuen Welt von den Einkünften aus dem Verkauf seiner Bücher auf repräsentativem Fuß leben konnte. Drei Bücher entstanden in den USA: das Memoirenwerk „Ein Zeitalter wird besichtigt“, erschienen 1946 in Stockholm und – in höherer Auflage – 1947 in Ost-Berlin, sowie die beiden Romane „Empfang bei der Welt“, 1956 postum veröffentlicht, und – als letzter Roman M.s – „Der Atem“, veröffentlicht 1949. Im Nachlass M.s wurde das Fragment des Dialogromans „Die traurige Geschichte von Friedrich dem Großen“ gefunden und erst 1960 von der Deutschen Akademie der Künste in Ostberlin publiziert. 1947 wurde M. die Ehrendoktorwürde der Berliner Humboldt-Universität verliehen, 1949 der Nationalpreis 1. Klasse für Kunst und Literatur der DDR. Im gleichen Jahr wurde er zum Präsidenten der neugegründeten Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt. Vor der geplanten Rückkehr in den östlichen Teil Deutschlands und Berlins starb M. am 11. März 1950 an einer Gehirnblutung im Schlaf.

Die Rezeption M.s in den beiden deutschen Staaten fiel unterschiedlich aus. Während die DDR M. von Anfang an als Kronzeugen sozialistisch-fortschrittlichen Denkens reklamierte, die DEFA (Deutsche Film AG) 1951 eine kongeniale Verfilmung des „Untertan“ unter der Regie von Wolfgang Staudte (1906–1984), mit Werner Peters (1918–1971) in der Hauptrolle, vorlegte und die DDR-Führung 1961 in einem Staatsakt die Überführung der Urne M.s nach Berlin auf den Dorotheenstädtischen Friedhof in Ost-Berlin protegierte, blieb M.s Werk in der BRD bis in die siebziger Jahre verschüttet; wenn überhaupt, wurde M.s Name nur zusammen mit dem des Bruders Thomas genannt. Eine Neubewertung M.s setzte in der BRD erst ein, als sein Beitrag zur literarischen Moderne sowie sein Eintreten für die Demokratie erkannt und gewürdigt wurden; hierbei bedurfte es des Bezugspunktes zum Bruder nicht mehr. Die Heinrich-Mann-Gesellschaft, am 27. März 1996 – dem 125. Geburtstag Heinrich M.s – gegründet, ging aus dem 1971 konstituierten Arbeitskreis Heinrich Mann hervor und gibt alljährlich das seit 1983 erscheinende Heinrich-Mann-Jahrbuch heraus.

 

Johannes Chwalek