Bericht des Amtmanns a.D., vierter und letzter Teil


Bericht des Amtmanns a.D., vierter und letzter Teil

 

Wenn ich heute darüber nachdenke, fallen mir nur wieder Fragen ein. Sie betreffen die Eltern, die nicht in der Lage waren, ihren Kindern adäquate Lebensumstände zu bieten. Bis heute hat sich daran nichts geändert, dass immer wieder ein, wenn auch glücklicherweise geringer Prozentsatz von Eltern versagt und den eigenen Kindern zur Last und Qual wird, oft genug schon zur entscheidenden Lebenserschwernis. Was passiert hierbei? Welche Mechanismen in den Gehirnen und Herzen solcher Eltern versagen? Wird eine Zeit kommen, wo solche traurigen Vorkommnisse der Vergangenheit angehören oder müssen wir uns für immer mit einer derartigen „Versagensquote“ abfinden? Ein über Hundertjähriger wie ich darf vielleicht solche „großen Fragen“ stellen, auch wenn sie nicht mehr zeigen als meine Hilflosigkeit.

Gab es in meiner Praxis auch Fälle, wo die Eltern zu Opfern oder zumindest zu Leidtragenden der eigenen Kinder geworden sind? Ich will dies nicht ausschließen, obgleich sich unser natürliches Empfinden dagegen sträubt und gerne davon ausgeht, dass die Schuld an einem verwahrlosten Kind immer bei den Eltern liegt. Im Fall des Hans G., der schon mit neun Jahren seine Lehrerin bestohlen hatte und danach noch viele andere Diebstähle beging, konnten wir kein offensichtliches Versagen des Elternhauses feststellen. Die Eltern G. waren empört und verzweifelt über die Diebestaten ihres Jungen und konnten sie sich nicht erklären. Sie versuchten alle möglichen Gegenmaßnahmen von Verständnis bis Schlägen, und nichts fruchtete. Wohl möglich, dass wir von Amts wegen nicht tief genug blicken konnten in die Familiensituation und die Diebstähle des Hans G. nicht deuten konnten als Hilfeschreie, auch das will ich nicht verneinen. Was die Wahrheit in diesem Fall gewesen ist, weiß ich bis heute nicht, und so frage ich „in alle Richtungen“. Aber lassen Sie mich die Vorfälle schildern, die in der Summe zur Fürsorgeerziehung für Hans G. geführt haben:

Seine Lehrerin bestahl er, wie erwähnt, bereits mit neun Jahren, es war ein Geldbetrag und ein Buch. Im Herbst 1937 – da war er zwölf Jahre alt – stieg er durch ein offenstehendes Fenster in die Wohnung einer Kinderschulschwester in R. ein, dafür musste er erst das Vordach eines Schuppens überklettern. Er durchwühlte die leere Wohnung und entwendete aus einem im Kleiderschrank stehenden Kästchen einen Betrag von 15 Mark. Mit diesem Geld fuhr Hans G. sofort per Postomnibus nach B., kaufte dort einen Fußball für 11,50 Mark, den Rest des Geldes gab er für Fahrgeld und Naschereien aus. Nicht lange danach wurde G. von seiner Mutter zu einem Bauern nach R. geschickt, um Eier zu holen. Während der Zeit, in der die Bäuerin in den Hühnerstall ging und G. allein in der Küche stand, entwendete er aus einer im Küchenschrank liegenden Geldbörse einen Zehnmarkschein. Sobald er die Eier erhalten hatte, strebte er in R. in eine Wirtschaft und ließ sich den Schein in Kleingeld wechseln, um den Diebstahl zu verschleiern. Aber die Bäuerin hatte den Verlust des Zehnmarkscheins sofort bemerkt, deswegen konnte G. das Geld gleich wieder abgenommen werden. Am Nachmittag des (liest von der Unterlage ab) 19. Juli 1938 wurde G. von seiner Mutter in die Wirtschaft und Gemüsehandlung J. nach R. geschickt, wo er Gelbe Rüben holen sollte. G. betrat gleichzeitig mit einem Reisenden das Verkaufszimmer der fraglichen Wirtschaft. Da nicht sofort jemand in der Wirtschaft erschien, begab sich der Reisende in die Wohnräume der Familie J. Diesen Augenblick nutzte G. für einen neuen Diebstahl aus. Aus einer unverschlossenen Schublade des Buffets entwendete er einen Betrag von 6 Mark und verließ das Verkaufszimmer. Die Gelben Rüben kaufte er bei einem anderen Gemüsehändler in R. Als der Wirt und Gemüsehändler J. in das Verkaufszimmer kam und G. nicht mehr vorfand, der sich nach Angaben des Reisenden im Verkaufszimmer befinden sollte, schöpfte er sofort Verdacht, kontrollierte seine Kasse und stellte den Fehlbetrag von 6 Mark fest. Auch dieses Geld konnte G. wieder abgenommen werden. Unsere Ermittlungen ergaben, dass G.s Eltern nicht in der Lage waren, dem Treiben ihres Sohnes Einhalt zu gebieten. G. kam in Fürsorgeerziehung, auch von ihm habe ich später nie mehr etwas gehört. Aber das Unbehagen, was es mit diesem Jungen auf sich hatte, dessen Diebstahlserie auf eine verhängnisvolle Energie schließen ließ und dessen Eltern allem Anschein nach ehrbare Leute waren, hat mich immer beschäftigt.

Das waren die drei Fälle, die ich Ihnen schildern wollte. Wenn ich den Sechzehnten des kommenden Monats noch erlebe, wird es mein 102. Geburtstag sein. In diesem Alter hat man fast alle Menschen überlebt, mit denen man in der Jugend und selbst im Erwachsenenalter zu tun hatte. Auch die meisten Fürsorgezöglinge, die ich in den Dreißigern kennenlernte, sind nun wohl schon tot. Ein Schlusswort wollen Sie noch hören? Verzeihen Sie, wenn mir selbst keines einfällt und ich nur mit einem Zitat antworte. Es stammt aus einem Gedicht von Eichendorff und lautet: „Ach Herr, führ uns liebreich zu Dir!“

 

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