Besuch
Erzähl-Fragment
Lina kündigte mir fürs Wochenende Besuch an: Saskia, ihre ehemalige Mitreferendarin.
Ich überlegte kurz.
„Hat die dir nicht ab und zu Tipps gegeben?“
„Ja. Das Examen hat sie mit Eins bestanden.“
Oh, dachte ich und stellte mir eine agile Person vor, geistig und körperlich. Aber Lina sagte, dass es Saskia nicht gut gehe. Mit ihrem langjährigen Freund lebe sie in Trennung, an ihrer Schule in […], wo sie sofort eine Planstelle erhalten habe, fühle sie sich ausgenutzt, außerdem dauere die einfache Fahrt mit dem Auto dorthin eine geschlagene Stunde. Auch eins ihrer Kaninchen sei gestorben. Sie habe dann gar keins mehr gewollt.
„Sind unsre beiden Kaninchen von Saskia?“
„Nur das Weibchen. Klopfer habe ich für Livi dazugekauft.“
Als ich vor vier Wochen von der Abschlussfahrt nach Prag mit meinem Stammkurs zurückgekehrt war, standen ein großes Kaninchengehege und ein Kaninchenhaus – verbunden mit einer Röhre aus Pressspan – im Hof. Lina liebt seit ihrer Kindheit Tiere und möchte, dass unsere Tochter Livi (Olivia, vier Jahre alt) mit Tieren aufwächst. Außer den beiden Kaninchen füttern wir zwei Hunde – Timo und Ossi –, einen Goldhamster – Bobby – und ein Pferd namens Pepper. Mir gehört ein Aquarium, 180 Liter, mit Warmwasserfischen.
„Tja“, meinte ich, „dann soll sich Saskia bei uns wohl aufmuntern, oder?“
Lina machte eine zustimmende Geste.
Am Samstagnachmittag saß ich mit Livi in meinem Arbeitszimmer, wir tranken Tee und naschten Gebäck. Lina und Saskia, die vor Kurzem ihr Auto in unserer Straße geparkt haben musste, standen im Wohnzimmer an der offenen Tür zum Aquarium-Zimmer, es schließt sich mit einem weiteren Durchgang ohne Tür an mein Arbeitszimmer an.
„Kommt!“, rief ich verwundert, als ich das Zögern der beiden bemerkte. Da durchliefen sie das Aquarium-Zimmer. Saskia warf nur einen kurzen Blick auf die beleuchtete, stille, aber dauernd in Bewegung befindliche Unterwasserwelt. Frauen mögen Tiere, die sie anfassen können, dachte ich, nicht reine Beobachtungstiere, wie es Fische nun einmal sind.
Saskia war größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, bewegte sich langsam und unsicher, wie mir schien. Was mir sofort auffiel, war ihre aschfahle Gesichtsfarbe. Vielleicht raucht sie jeden Tag ein Päckchen Zigaretten, dachte ich. Später erfuhr ich von Lina, dass Saskia Nichtraucherin sei.
Lina stellte mich ihrer Besucherin vor, dass ich ebenfalls Lehrer sei, schreiben und zeichnen würde. Saskia sagte nichts darauf, sondern nickte nur schwach mit dem Kopf. Es entspann sich ein Smalltalk: Welche Fächer unterrichtest du? Danke, dass du Lina im Ref unterstützt hast. Mein Ref war auch nicht leicht, aber was bei euch ablief, war schon von besonderer Güte usw.
Es kommt mir heute so vor, als ob nur ich gesprochen und Saskia pflichtschuldig geantwortet hätte. Fragen an mich hat sie glaube ich gar nicht gestellt. Vielleicht doch eine oder höchstens zwei, aber nur aus Höflichkeit, sodass ich sie vergessen habe. Dann gingen die beiden wieder hinaus und ins Erdgeschoss oder auf den Hof. Ich weiß noch, dass ich ein diffuses Gefühl hatte von der neuen Bekanntschaft. War Saskia nicht sehr weit weg gewesen und nur körperlich anwesend?
Bald darauf rief mir Lina vom unteren Stockwerk zu, ich solle Livi runterbringen, sie würden zu Pepper fahren. Ich schnappte Livi und stieg mit ihr die Stufen des Treppenhauses ab, die Kleine – die größer und schwerer wurde; Lina hatte schon Mühe, sie zu tragen – musste eine leichte Jacke und Schuhe angezogen bekommen. Außerdem wollte sie Möhren mitbringen für Pepper. Ich lief also wieder hoch und holte die Möhren aus dem Kühlschrank. Nach dem Anziehen ging’s zum Auto. Livi musste auf dem Kindersitz festgeschnallt werden. Saskia saß schon im Auto.
„Pass auf wegen der Kaninchen!“, sagte Lina. „Später kannst du den Käfig zu machen, wenn sie beide drin sind. Und schließ das Tor ab.“
Die Sache war die, dass die beiden Kaninchen nicht nur über ein geräumiges Gehege und ein feines Kaninchenhaus verfügten, sondern beinahe den ganzen Tag Freigang im Hof erhielten, wo sie auf die Blumentöpfe sprangen, die Blumen als weitere Abwechslung im Speiseplan erachteten und zudem in der Erde buddelten, dass tägliches Hofkehren nötig wurde.
„Ja, ja, mache ich“, erwiderte ich und wünschte viel Spaß.
Nicht vergessen abschließen, sagte ich mir, als ich allein war und meine Gedanken schon zum Schreiben eilten. Ich wollte es nicht verschulden, wenn eins der Kaninchen einen gefährlichen Ausflug auf die Straße unternahm.
Das Frühstück am nächsten Tag sollte im Hof stattfinden. Ich ging hinunter, Livi saß bereits am Tisch – nein, das ist kaum denkbar. Sie ist im Hof herumgerannt, Klopfer hinterher. Timo und Ossi liefen auch im Hof herum. Bei Ossi brauchte man keine Bedenken haben wegen der Kaninchen. Lina hatte ihm einmal klargemacht, dass die Kaninchen in Ruhe gelassen werden mussten, und Ossi hatte es verstanden. Er hielt sich daran. Freilich: er war ein Hütehund. Für Timo, einem Deutschen Jagdterrier, sah die Sache anders aus. Aber auch er hatte sich das eindringliche Wort von Frauchen gefallen lassen müssen. Trotzdem wandelte ihn die Versuchung an, sobald er die weichbehaarten Schlappohren-Hoppler gewahr wurde. Zu seiner Ehre muss jedoch gesagt werden, dass er sich immer ohne weiteres zurückpfeifen ließ.
Saskia stand an einem knapp bis zu den Oberschenkeln eines Erwachsenen reichenden Blumentopf, in dem Elfi in der Erde wühlte. Sie versuchte das Tier zu streicheln. Es war doch ihre Elfi gewesen, die sie leider weggeben musste, als der Rammler an irgendeiner Krankheit gestorben war. Ich sah Saskia kurz zu und fragte sie lächelnd:
„Was hältst du von diesem Haus der Tiere?“
Ohne auf meinen Tonfall zu reagieren, entgegnete Saskia ernst:
„Es ist das Paradies.“
Die Antwort verblüffte mich ein wenig. Ich erwiderte nichts darauf. War es deshalb, weil ich Saskias Reaktion humorlos fand und mich ein wenig darüber ärgerte? Oder musste ich ihr recht geben und dankbar sein für ihr Wort, dessen Inhalt ich im Alltagsstress oft vergaß?
Elfi wollte sich von Saskia nicht streicheln lassen. Oder vielleicht doch? Vielleicht nur kurz. Ich weiß es nicht mehr genau. Dass Saskia mit einem Handfeger und einer Kehrschaufel Elfis Wühltätigkeit im Hof zu Leibe rückte, ist mir noch in Erinnerung geblieben.
„Livi, nicht Klopfer jagen!“
„Ich will, dass ich ihn streicheln kann!“
„Dann musst du ganz ruhig bleiben und darfst keine hektischen Bewegungen machen.“
„Aber er kommt nicht!“
„Doch, der kommt schon. Du musst Geduld haben.“
Saskia war inzwischen zu Lina in die Küche gegangen und brachte von dort Butter, Marmelade – oder war es Wurst oder Käse? – in den Hof. Sie entdeckte den gläsernen Pflanzensprüher, den ich auf den Tisch gestellt hatte, und fragte mich, was es damit auf sich habe. Die Frage war sozusagen das erste Lebenszeichen, das ich von ihr vernahm. Bisher hatte ich mich von ihr ignoriert gefühlt.
„Das ist für die Wespen“, erklärte ich. „Ich habe gelesen, wenn man sie besprüht, denken sie, es regnet und hauen ab.“
„Aha!“, entgegnete sie in einem Tonfall, der mich aufhorchen ließ. Dann fragte sie: „Schon evaluiert?“
Ihre Stimmlage war noch pointierter geworden, dass ich dachte: siehe da, es gibt also zwei Saskias, eine von lauter Nöten mit dem langjährigen Freund und dem toten Kaninchen und was weiß ich noch alles verschüttete – und eine, die eine Eins im Examen hatte und etwas draufhaben musste. Die letztere Saskia hatte sich soeben aus dem Schutt ihrer Kümmernisse, ihren langsamen und unsicheren Bewegungen und ihrer aschfahlen Gesichtsfarbe emporgeschwungen und mir zu verstehen gegeben, dass sie sich mir ohne Weiteres an die Seite stellen könne.
„Nein, noch nicht, aber ich habe das gelesen, und bestimmt kann ich das gleich ausprobieren.“
„Da, Papa, da!“, rief Livi; eine Wespe befand sich – wie bestellt! – im Anflug auf das Marmeladenglas, obgleich es mit dem Schraubendeckel noch verschlossen war. Aber was heißt das? Es war schon ein- oder zweimal geöffnet worden und sendete deshalb Riechpartikel in die Luft und ins Wespensensorium ab.
„Mach, Papa, mach!“
„Ja, ich sprühe!“, sagte ich und griff nach dem Pflanzensprüher.
„Ja, sprühe!“, rief Livi.
Die Wespe zeigte sich vom Wassernebel irritiert, versuchte aber sofort einen zweiten Anflug zum Marmeladenglas, sodass ich erneut die Druckvorrichtung des Pflanzensprühers betätigen musste. Sogar ein dritter Drücker war notwendig – ich musste es dreimal sagen! – bevor die Wespe wahrscheinlich das tat, was ich online unter „Wespen vertreiben“ gelesen hatte: sie flüchtete in Richtung ihres Nestes.
„Ja, Papa, ja!“, rief Livi und klatschte in die Hände.
Ich lächelte ihr zu.
Saskia nickte kaum merklich und ging wieder ins Haus.