Der ganz normale Wahn-Sinn


Der ganz normale Wahn-Sinn

Eine wahrheitsgetreue Schmunzelgeschichte

 

10.12.2022

 

Es war Samstagmorgen. Lange noch vor Sonnen-Aufgang. Noch schwebte Gottes Geist über den Wassern — oder war es doch nur ein Alptraum aus Versatzstücken, aus teils Bewusstem, teils Unbewusstem, teils unverarbeitetem Unterbewusstem, dessen Bilder über meinem Tages-Bewusstsein schwebte, und Reales, Surreales und Irreales zu einem Film namens „tohu wa bohu“ aneinanderreihte? Wirres und Irres, aber doch irgendwie real Erscheinendes, das sich wie ein „Schwarzes Loch“ durch die Mitte meines Ich-Bewusstseins bewegte und dabei so farbig, so bunt, so lebendig — eben real — erschien, dass mein Ich diesem Treiben ohn-mächtig ausgeliefert war. Es war ein traumwandlersiches Segeln zwischen Skylla und Charybdis, eine Odyssee aus real erlebten Bildern, die jedoch nichts anderes als quälende Traum-Phantasien waren. Wo war die Tapetentür in diesem hermetischen Traum-Raum? Wo in aller Dunkelheit der leuchtende, der rettende Schriftzug: „Exit“. Ich fand ihn nicht.

Aber dann — noch immer vor Sonnenaufgang und immer noch schwebte Gottes Geist über den Wassern — erscholl aus den unendlichen Weiten dieses Alptraum-Universums ein Signal. Zunächst kaum hörbar, undeutlich, so weit, weit weg, dass man es für eine akustische Täuschung hätte halten können. Doch allmählich wurde das Signal klarer, deutlicher, lauter auch, kam meinem Tages-Bewusstsein aufdringlich und unausweichlich näher und näher, fraß sich wie ein Laserstrahl-Schneidbrenner durch den Alpdruck, bis dieser in hundertausend Bild-Fragmente zerstiebte, und mein Tages-Bewusstsein endlich wieder die Oberhoheit erlangte und augenblicklich die Kontrolle in meinem Leben übernahm. So glaubte ich. Noch.

Piep, Piep, Piep… Es ward Samstag-Morgen, sechster Tag. Ich grapschte schlaftrunken nach meinem uralten „Elite“-Wecker, der irgendwo auf meinem Nachttisch stand, und ertastete die Ausschalt-Taste des Signal-Weck-Tons. Den Schalter der Nachttischlampe fand ich dann schon etwas zügiger. Fiat Lux! Es werde Licht — und es ward Licht, 40 Watt.

„Ooch, lass‘ uns noch einen Moment kuscheln…“ Das war nun weder Gottes Geist, noch eine Stimme aus dem „Off“ meines Traumes, sondern die weltbeste aller Ehefrauen, die ihrem Schmusebedürfnis Ausdruck verlieh. Also eigentlich sind wir nicht verheiratet, sondern leben seit nunmehr über 20 Jahren, juristisch korrekt formuliert, in einer „eheähnlichen Gemeinschaft“. Ellen weist daher im „öffentlichen Raum“ (zumal bei Ämtern…) stets darauf hin, dass ich ihr „Lebensgefährte“ sei. Ich nenne sie dort, in der anonymen Öffentlichkeit der Geschäfts-Bereiche, „meine Frau“. Ich denke, das ist korrekt so. Nichtsdestotrotz sind wir meist noch so verliebt wie am ersten Tage — dann nennen wir uns im privaten Raum gerne mal „Häslein“ oder „Spätzlein“ oder einfach „Schatz“. Old School. Ich denke, auch das ist korrekt so. Aber natürlich ist auch diese unsere Lebens-Gemeinschaft, diese zutiefst innige menschliche Beziehung, nicht immer spannungs-frei. Wo Menschen sind, da menschelt es…, heißt es. Und dies gilt ganz besonders für das Verstehen und Verständnis zwischen „Mann“ und „Frau“. Weiß Gott: Kommunikation — verbal und/oder nonverbal — ist ein Balance- und ein „Drahtseilakt“. Manchmal stressen wir uns — aber so richtig. Dann geben wir uns andere Namen und signalisieren einander, dass wir gleich die Contenance, die Geduld oder aber den Verstand verlieren. Gerate ich jedoch in Jähzorn, was bisweilen an meiner „kritisch-krisischen Grundbefindlichkeit“ liegt, so schreie ich das ganze Haus zusammen, etwa mit einem völlig unphilosophischen „SCHEISSE!!!“. Männer sind nunmal so…, so irrational. Und Ellen darauf, völlig nüchtern und sachlich: „Glaubst Du denn wirklich, dass sich durch Dein Gebrüll irgendetwas Grundlegendes an der jetzigen Situation verändern wird…?!“ Frauen können so entwaffnend rational sein… Dann muss ich über mich selber lachen. Der Sieg ist Ellen in solchen Eskalations-Situationen fast immer gewiss. Sie ist mein Halt, wenn ich ins „Schweben“ bzw. „Ab-Stürzen“ gerate, bisweilen auch mein „Simon von Cyrene“…—

Doch retour. Von St. Nikolaus her, der katholischen Pfarrkirche, die Luftlinie vielleicht 200 m entfernt steht, erklingen vorweihnachtlich die Glocken zum 3. Advent. Es ist Punkt 07:00 Uhr. Zeit, um aufzustehen, zum Bäcker nebenan zu laufen (Luftlinie etwa 50 m…), und lecker Frühstück zu machen. Das ist mein Part. Jeden Samstagmorgen. Ein eingespieltes Ritual. Ellen freut sich auf dieses Frühstücks-Zeremoniell wie eine „Schneekönigin“. Denn werktags muss sie bereits um 05:00 Uhr aufstehen, macht gegen 07:00 Uhr für uns beide Frühstück, um anschließend pünktlich zur Arbeit zu fahren. Doch heute ist Samstag, und wir haben uns fürs Kuscheln entschieden und schlafen aneinandergeschmiegt sofort wieder ein, denn draußen herrscht noch pechschwarze Nacht. Doch nur kurz. Denn gegen 07:30 Uhr poltert auf der Baustelle nebenan, Luftlinie ca. 15 m, irgendein LKW oder war es doch ein „Boschhammer“, der uns jäh aus dem seligen Schlummer reißt. Jedenfalls werden wir wach. Ich schaue verschlafen auf die Uhr und springe entsetzt aus dem Bett, stürze ins Bad, putze die Zähne, lege meine zerzausten Haare irgendwie „auf Scheitel“, und „raus aus dem Haus“. Keine Minute zu spät: der Bäcker hat noch lecker Brötchen und Stollensterne, es sind bereits die Letzten ihrer Art. Frühstück gerettet!

Der werte Leser, die werte Leserin müssen nämlich wissen, dass es zwei Sorten von Krotzeboijern gibt: Frühaufsteher:innen, die kommen bereits zwischen 06:00 – 07:00 Uhr zum Bäcker, und die können an Tagen wie diesen den Bäckerladen schon mal ratzfatz leerkaufen. Zumal dann, wenn es sich bei diesem Bäcker um einen der letzten Handwerker und Konditoren handelt. Und dann gibt es da noch die Ingeplackde (ohne -:innen): Also all jene Bürger:innen, die nach dem Krieg irgendwann einmal zugezogen sind. Krotzeboijer:in wird man und frau kraft der Geburt. Ingeplackde jedoch aufgrund von Miet- oder Arbeitsverhältnissen, u.ä.m. . Letztere holen sich meist gegen 08:30 oder 10:30 Uhr ihre Bestellungen beim Bäcker ab, frühstücken ausgiebigst und gemütlich bis gegen 12:00 Uhr, um dann auf den „Wochenmarkt“ nach Seligenstadt (oder Hanau) zu fahren. Oder sie fahren zum „Shoppen“ nach Aschaffenburg, Frankfurt, etc. pp. . Städter:innen eben. Kommt also einer von uns Ingeplackde oder Zugezogenen „zu spät“ zum Bäcker und hat — wider besseres Wissen! — nicht vorbestellt, so kann diesen Zeitgenossen das tückische Schicksal ereilen, dass die Krotzeboijer Frühaufsteher:innen inzwischen alle Brötchen aufgekauft haben (und das sind i.d.R. mehrere Körbe voll…). Dann heißt es von der Bäckerin lapidar: „…die Weck soin all weg, die soin all all…“ Worauf der enttäuschte Neuankömmling in etwa antwortet: „… des is abber net nett… ei wer war dann do do…?“ Nun, wer wohl?! Wie dem auch sei.

Ich war also gerade noch rechtzeitig beim Bäcker reingeschlüpft und brachte nun triumphierend die röschen Brötchen zum Frühstückstisch (die meisten Männer — Philosophen oder nicht — sind in ihrem tiefsten Inneren doch immer noch Neandertaler oder bestenfalls steinzeitliche Jäger geblieben. Ob nun Wildschwein oder Brötchen macht da keinen Unterschied: Beute ist Beute und Triumph ist Triumph, der ausgekostet werden will. Man gönnt sich ja sonst nichts…). Samstags gibt es zu den knusprigen Brötchen frisch gemahlenen Bohnenkaffe in vorgewärmten Becking-Tassen, ein Frühstücksei, nicht zu hart gekocht (in der Mitte des Dotters muss sich noch eine kleine feuchte Stelle befinden; Ellen bekommt das intuitiv immer genial hin…), sowie selbstgemachte Marmeladen (Himbeer, Erdbeer, Zwetschge) und Eifelhonig. Die Welt an diesem Samstag-Morgen glich einem Spiegelei — und wir beide waren „mittendrin“. Ein gleichsam paradiesischer Zustand, beinahe Schwere-los. Bis dahin. Jedoch, der gnadenlos unablässig vorrückende Zeiger der Küchenuhr springt bereits auf 09:30 Uhr um, und beendet diesen magischen Zustand vollkommenen, harmonischen Glücks. Zeit, die Frühstückstafel aufzuheben und sich den Niederungen des schnöden Alltags zuzuwenden. Ellen setzt sich zur Meditation (sie praktiziert seit über 20 Jahren Yoga, ist ausgebildete Yoga-Lehrerin, und pflegt enge Verbindungen zum Atmasantulana-Village in Indien), während ich die Küche aufräume, den Müll hinunterbringe und den Abwasch erledige. Wir wollen beide heute vormittag noch auf den Hunsrück fahren. Ellen’s Schwägerin wir 65 .

 

— Fortsetzung folgt —