Die Mieterin


Ein Gastbeitrag von Elke Orlac

Heute stelle ich eine Kurzgeschichte der Autorin Elke Orlac vor. Sie wird bald ihren ersten Roman „Louise, Hofnärrin zu Weimar“, erscheint im Scholastika Verlag, vorstellen. Hier eine Kostprobe ihrer Schreibkunst.

 

 

Die Mieterin

Nach dem Lärm trifft sie die plötzliche Stille. Sie hört ihre Atemzüge, den Luftstrom aus ihrem offenen Mund, sie schließt die Lippen und leckt sich über die rissige Haut.

Ungewöhnlich groß ist der Raum ohne Möbel und Vorhänge. Die Fenster wirken wie Augen, die keine Wimpern haben. Die Tür vor ihr ist ausgehängt und lehnt neben dem Türrahmen an der Wand. Durch die Öffnung blickt sie in das nächste leere Zimmer.

Ihr ist, als schämten sich die Wände ihrer Nacktheit, als fühlten sie sich preisgegeben in ihrem schmuddeligen Weiß. Die noch frischen helleren Rechtecke auf ihnen, mit ihrem angegrauten Rand verstärken diese Blöße. Sogar der Umriss der entfernten Kommode ist noch zu erkennen.

Dieses Spurenhinterlassen müssen beschämt sie. Sie begreift nur nicht warum. Das dunkle Viereck unter ihren Füßen innerhalb des ausgebleichten Bodens wirkt wie der Schatten eines Teppichs. Diese Abwesenheiten bekommen für sie etwas Geisterhaftes. Das Wort Schattenwohnen fährt ihr durch den Kopf. Von ihr werden noch kurz die Höhlenzeichnungen an den Wänden bleiben, dann ist ihre Epoche vorbei. Ihr Geld reicht nur noch für die Lagerung der Möbel.

Kleine Häufen von Staub mit Papierfetzen, mit Flusen und Flinsen nisten in den Ecken des Zimmers. Wie zusammengekehrtes Gedankengut liegt es da. Schmutziges versammelt sich hier. Sie schluckt. Etwas wie Hohn liegt in der Luft. Ihr ist, als sei sie selbst nackt und ein Bild kommt in ihr hoch und in ihm der aggressive Akt ihrer Geste im Restaurant. Sie riecht Knoblauch und Kräuter. Vor ihr steht ein Schneckenpfännchen auf einem weißen Tischtuch. Sie greift nach der Zange, hebt das Schneckenhaus aus der Höhlung, hebt es vor sich hoch, nimmt die Schneckengabel, sticht in die Schnecke und mit einem Plopp ist sie aus dem schützenden Haus gerissen, ist aufgespießt auf der Höhe ihres Mundes. Sie ist die Schnecke, nackt auf einer Gabel, zitternd und schutzlos ohne Haus. Jetzt hört sie den angeekelten und verächtlichen Ton ihrer Freundin, mit der sie gemeinsam an einem Sonntag durchs Gras gegangen war. Sie hatte ihren bloßen Fuß aus der Sommerpantolette gezogen und aufgeschrien: „Igitt, eine Nacktschnecke!“

Eine Schnecke, die ekelhaft ist, die widerwärtig ist und minderwertig, weil sie nackt ist und ohne Haus.

Aufschluchzend atmet sie ein und nimmt jetzt die Ausdünstung des Zimmers wahr. Etwas wie sauer gewordener Mörtel steigt ihr in die Nase. Ein Geruch nach aussichtsloser Veränderung. Sie beginnt zu schwitzen.

 

Ihr Gesicht ist nass. Auf ihrer Haut liegt ein feuchter Film. Sie betrachtet sich im Spiegel ihres Badezimmers. Er ist von einer Girlande aus Glühbirnen erhellt.

Interessant, dass sie schwitzt. So nah war sie also der Geschichte. Gern fühlt sie sich ein. Am liebsten aus einer räumlichen Distanz, wie eben jetzt.

Sie war also in ihr, war dicht in ihrer Mieterin, war inmitten der leeren Wohnung. Ein für sie gewohnter Anblick, weil sie schon oft in ihren leeren Wohnungen gewesen war, mit einem prüfenden Blick, um die möglichen Schäden zu beurteilen.

„Ich komme zurück aus fernen Gefilden“, hört sie sich sagen, als sei dies der Beginn eines Liedes. Gern spricht sie ihre Sätze laut. Zu formulieren macht ihr Freude. Ihr ist dann, als schmecke sie die Töne, als würde sie ihr Aroma testen. Sie wird daraus eine Geschichte machen. Eine, die sie erst sich selbst und dann weitererzählen wird. Das Erdachte will jedoch geformt und geübt sein. Es muss wirken. Ja, sie war in ihr, war ganz dicht in ihrer Mieterin, stand wie sie in ihrer leeren Wohnung und konnte sehen, fühlen, riechen und konnte empfinden wie sie. Dies verdankt sie ihrer Einfühlsamkeit. Sie horcht dem Begriff nach. Das Wort wärmt. Diese ihre schöne Eigenschaft wird von ihren Freunden geschätzt. Sie erwähnt sie selbst gern und wird ihnen ihre neue Geschichte erzählen. Titel: „Die Mieterin.“ Sie wird ihnen aber auch den Grund nennen müssen, warum sie dieser Frau kündigte. Ein Elend in ihrer Position. Immer ist sie unter dem Druck der Rechtfertigung. Doch sie war im Recht – wegen der Mietschulden. Soweit war alles in Ordnung.

Gegen das leise Unbehagen betrachtet sie streng ihr Gesicht im Spiegel. Der Schweiß macht ihre Haut frischer. Fast rosig wirkt sie jetzt, denkt sie bitter. Sie trocknet sich ab und legt eine Lotion auf. Vorsichtig tupft sie helles Makeup über die dunklen Augenringe und gibt goldbraunes über das ganze Gesicht und den Hals. Sie löst ihr streng nach hinten gestecktes graues Haar und lässt es herabfallen. Üppig schwingt es auf ihren Schultern. Dann greift sie nach dem Lippenstift.

 

Und sie wird ihre Lippen knallrot bemalen, wie sie es immer tut, wenn sie ihre noch fülligen grauen Haare bis über die Schultern fallen lässt, sozusagen als Kontrast. Sie wird ihren faltigen Hals mit einem weichen Schal umschmeicheln, wird ihr schon schlaffes Kinn heben und dann herausfordernd in den Spiegel sehen wie zur Probe für einen möglichen Auftritt. Sie wird ihre jetzt glänzenden Lippen ein wenig vorschieben, die Mundwinkel ein wenig anheben, sie in eine kühle Freundlichkeit formen und so gewappnet wird sie gleich zu ihm kommen, um ihm lächelnd mitzuteilen, dass sie dieser Mieterin, die er kürzlich so liebenswürdig gefunden hätte, inzwischen gekündigt habe.

Ein hilfloser Hass steigt in ihm hoch. Wer ist er schon. Ein gefragter Synchronsprecher, der ausländischen Filmstars seine Stimme gibt. Nichts anderes ist er als ein den anderen Nach-dem-Munde-Redner. Einer, der nachplappert, was man ihm aufgeschrieben hat. Ja, er lebt zum großen Teil von ihrem Geld.

Das Pech war nur, dass seine Frau in das französische Lokal gekommen war, in dem sie eben Schnecken aßen. Sie blieb an der Tür stehen und tat, als würde sie ihn und ihre Mieterin nicht sehen. Er machte es ebenso und tat, als würde er seine Frau nicht sehen.

Auf diese Weise werden sie weiter zusammenleben, denkt sie jetzt, als sie im Treppenhaus steht und die Tür abgeschlossen hat. Sie wird die Wohnung aufwertend renovieren lassen für eine höhere Miete.

Ihre Hand zittert. Im Mund hat sie einen bitteren Geschmack. Sie riecht den sauren Mörtel der Wohnung, erinnert sich an die leeren, schmuddeligen Wände, die zurückgelassenen Lebensspuren auf ihnen, die aussehen wie die Linien auf ihrer gespiegelten Haut. Ach, es lässt sich alles übertünchen. Unter ihrem Fuß knirscht ein Stück trockener Mörtel. Ein Geräusch wie ein zertretenes Schneckenhaus.

 

Elke Orlac