Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes, Teil 3


Bernhard Ruppert

Johannes Chwalek

 

Die Sonne hat die Breite des menschlichen Fußes

Rundgänge mit Heraklit, Teil 3

 

Mit vier Heraklit-Worten die vier Seiten des Konvikts begehen – ein kleiner Ein­fall, abseits vom Alltag und ganz privat, wie ich dachte. Aber zwei haben mich darauf angesprochen: der Prä und Ludwig Gärtner. Wenige Tage später geht’s auf den gleichen Weg – der anders sein wird. Allein mit mir widersprach mir nie­mand, machte mir niemand die Dürftigkeit meines Denkens bewusst. Nun be­gleitet mich Ludwig Gärtner. Er hat sich die vier Philosophen-Worte aufgeschrie­ben und dazu Notizen gemacht. (Auf die Transparente im Geist verzichten wir allerdings. Von ihnen habe ich weder dem Prä noch Ludwig Gärtner etwas er­zählt!)

 

I, Ostseite:

 

GÄRTNER: Zu Deinem ersten Zitat habe ich eine etwas andere Übersetzung gefunden, und zwar bei Wilhelm Capelle, hör Dir das mal an (liest von einem Zettel ab): „Daher muß man dem Gemeinsamen folgen. Obgleich aber das Welt­gesetz (Logos) allem gemeinsam ist, leben doch die Vielen, als ob sie eine ei­gene Denkkraft hätten.“

ICH(schaue auf meinen Zitat-Zettel): „allem“ gemeinsam, hast du gelesen? Bei mir steht „allen!

GÄRTNER (lacht): Die korrekte Übersetzung wäre sehr wichtig. Aber das können wir jetzt nicht klären. „Denkkraft“ und „Einsicht“ haben auch ihre Unterschiede!

ICH: „dem Gemeinsamen folgen“ – halten wir uns daran!

GÄRTNER(nickt): Womöglich hat Heraklit damit einerseits das so genannte Ge­meinwesen, die Stadt, die Polis gemeint, die wie ein Körper aus verschiedenen Teilen von Sklaven und Freien bestand und wie dieser dennoch eine lebendige Einheit bildete. Geformt und geordnet, regiert durch den Logos in Form von Ge­setzen. Und wie der Logos lebendig ist, so sind auch die Gesetze hieraus heilig. Andererseits zielt das „Gemeinsame“ auch auf den Menschen. Dieser scheint je­doch eben dieses Gemeinsame, das Weltgesetz, den Logos, eigenmächtig ver­lassen zu haben und versucht sich im eigenen Denken – obschon er es nach He­raklit nicht vermag.

ICH: Das erinnert an den „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“.

GÄRTNER(nickt wieder): …der in der jüdischen „Genesis“ tabu war. Der Ver­such, mehr zu erkennen, als das dem Menschen angemessene Maß, wurde als „Sünden-Fall“ gedeutet.

ICH: …mit der Folge der Vertreibung aus dem Paradies.

GÄRTNER: Paradies kommt von „paradeisos“, was Ummauerung bedeutet, ein „Gehege“, also ein geschützter Raum.[1] Der Mensch hat den ganzheitlichen Zu­stand zwischen sich und Gott verlassen und stellt nun entsetzt fest, dass er „nackt“ ist, ungeschützt, unbehaust, sich selbst ein Abgrund und ein alles ver­schlingender „Leviathan“, dass seine Welt eine Wüstenei aus „Irrungen und Wir­rungen“ darstellt, wie Martin Buber sagt.

ICH: Warum sollte der Mensch einen nachteiligen Zustand leichtfertig riskieren? Würde er den Nachteil nicht sofort beenden, wenn er nur wüsste wie? Und zeichnet nicht gerade das Denken den Menschen aus?

GÄRTNER: Natürlich kann der Mensch denken – aber nicht tief genug. Somit fällt er anhand seiner eigenen „Denke“ aus der göttlichen Ordnung heraus. Denn des Menschen Denk-Kraft ist nur ein „als ob…“, also nicht wahr.

ICH: Der Mensch kann nicht tief genug denken, sagst du, wie soll er dann die göttliche Ordnung erkennen? Wie soll er wissen, dass er sich außerhalb davon stellt?

GÄRTNER: Ich verstehe, was du meinst. Die christliche Religion versucht uns ein schlechtes Gewissen einzureden, dass wir Verantwortung für eine Trennung von Gott übernehmen sollen, die wir gar nicht zu verantworten haben. Selbst wenn wir Adam und Eva wären, wäre es doch Gottes Wille und Entschluss gewesen, dass wir vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ kosten sollten. Hier klemmt die Sache in verschiedenen Richtungen…

ICH: Wenn man will, kann man die bisherige Geschichte mit allen Verwerfungen aus Gewalt und Machtstreben als Ausdruck der Getrenntheit von Gott interpretie­ren. Oder man formuliert es anders und sagt, dass der Mensch inmitten seiner „Wüsteneien“ auch stets ein unbestimmtes Ideal des Besseren in sich trägt, wie immer er es bezeichnen will. Da wären wir vielleicht auch wieder bei Heraklit an­gelangt! Ist der „lebendige Logos“, wie du sagst, für Heraklit widerspruchsfrei?

GÄRTNER: Puh, eine schwierige Frage! Wenn wir einen dualen Ursprung an­nehmen, der sich in die Dualitäten ausfaltet, gibt es kein Entkommen. Nehmen wir jedoch eine Einheit als Ursprung an, mögen die dualen Erscheinungs-Formen von einem Ganzen umgriffen sein. Hör dir mal dieses Heraklit-Zitat an (liest von einem Zettel ab): „Sie verstehen nicht, wie das eine auseinanderstrebend inei­nanderstrebt, wie gegeneinanderstrebend sich Bogen und Leier verbinden.“

ICH: Harmonie ist das Umgreifende zweier Gegensätze, Töne oder auch Ak­korde…

GÄRTNER: Ja, die Leier ist das Umgreifende, das in der Spannung die gegen­sätzlichen Züge von Saite und Horn harmonisch zusammenbringt. So ungefähr kann ich auf deine Frage nach Heraklits Logos und ob er als widerspruchsfrei aufzufassen ist, antworten. Aber ich kenne mich da letztlich nicht genügend aus, ich bin kein „alter Grieche“.

ICH: Niemand von uns ist das, wir denken „modern“, „aufgeklärt“, „rational“, He­raklit dachte „griechisch“.

GÄRTNER(nickt): Das Problem ist die Zu-Wendung zu Heraklit; sie ist zugleich die Weg-Wendung vom Heutigen.

ICH: Das „Heutige“ – ein gutes Stichwort! Gibt es noch irgendein Gesetz, eine Satzung etwa, eine „Straßenverkehrs“-Ordnung oder auch nur „Hausordnung“, die uns „Heutige“ bindet? Ich habe den Eindruck, dass wir uns heute immer mehr in uns selbst verlieren.

GÄRTNER: Ja, überall stiehlt sich der Einzelne klammheimlich in seine Autokra­tie davon. Die selbsternannten, selbst gemachten „Gesetze“ sind immer schon der Anfang vom Ende einer Gemeinschaft gewesen. Sei es eine Familie, eine Gruppe, eine Gesellschaft oder Nation. Wenn der „soziale Kitt“ wegbröckelt, wenn die soziale Kohärenz erodiert, lösen sich Staat und Gesellschaft nach und nach auf. Gleichviel ob zu Heraklits Zeiten die polis oder heute unsere moderne Gesellschaft.

 

[1] Nicht lange nach unserem Rundgang schrieb mir Ludwig Gärtner aus den Sommerferien einen Brief mit einer Überlegung zum Thema „Paradies“, die ich hier anfügen will: „Wenn wir den „Ort“ als Ausgangs-Punkt verlassen und eine Wirklichkeit statt des Ortes annehmen, ein Wie anstatt eines Wo – wie verändert dieser Paradigmen-Wechsel die Hin-Sicht auf das Gesuchte? Wenn das Paradies kein Ort und kein Bestand ist, kein „Meta“ hinter oder jen-seits der Physis, wie könnten wir hieraus vertrieben werden, wie es verlieren – aber auch: wie es erreichen? Ist’s vielleicht eine jahrtausendealte Umschreibung für einen „inneren Ort“ unserer Seele, eine Wirklichkeits-Beschreibung unseres Mensch-Seins, ähnlich jener „Burg“ der Katharina von Siena? Wenn wir einmal diesen ganzen „Zuckerguss“ von Glück, Wohlsein und Unsterblichkeit wie auch den „Kleister“ von strafenden Erzengeln und erzürnten Vater-Göttern weglassen, was ist dann „Paradies“ für uns heute? Ist es vielleicht diese „Leer-Stelle“ (chorá), dieser „Freie Raum“ zwischen „Ich“ und „Geist“ – eine Wirklichkeit in uns, die uns immer gleichsam „voraus“ ist und dennoch so nahe? Ich weiß es nicht. Aber eine lohnende Frage…“

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