Ein Jubel, der nicht enden will
Erzählung, Teil 3
Vorbereitungen
Nach der Schule stand ich wieder vor den Zeitungsglaskästen und las in der aktuellen Ausgabe: 4. August 1914. Die Welt der Erwachsenen, die mich seit einigen Tagen brennend interessierte.
Ein wenig beunruhigt war ich gleichwohl. Würde der Prä sein Wort wahrmachen, aufkreuzen und mich ins Gespräch ziehen? Könnte ich ihm Paroli bieten? Nein, ich würde ihm nichts entgegensetzen können, und ich wusste, dass es mich ärgern würde. Es ärgerte mich jetzt schon. Schon der bloße Gedanke daran ärgerte mich. Noch nicht einmal den älteren Schülern konnte ich verbal „Paroli“ bieten, ja nicht einmal mit ihnen „gleichziehen“ oder wenigstens ein Wort sprechen, das ihre Aufmerksamkeit bannte und ihnen die Ahnung einflüsterte, dass ich jemand sei.
Da kam der Prä, wie ich es befürchtet, aber auch – ich gestand es mir ein – ein wenig erhofft hatte. Der Prä hielt es offensichtlich der Mühe wert, mich an den Zeitungsglaskästen aufzusuchen und sich mit mir zu unterhalten. Er war nicht meiner Meinung, er war komplett anderer Meinung als ich. Er wollte mich umstimmen, wie er es gestern versucht hatte und heute mit großer Wahrscheinlichkeit wieder versuchen würde. Aber er sah nicht über mich hinweg, sondern kam extra aus seiner Wohnung heraus zu mir an die Zeitungsglaskästen!
„Also Du liest tatsächlich wieder die Zeitung, Ludwig!“ sagte der Prä zur Begrüßung – und ein wenig wie zu sich selbst.
„Ja, ich muss doch wissen, wie es weitergeht“, antwortete ich.
„Hast Du nachgedacht über meine gestrige Frage?“
Mein Blick verriet ihm, dass ich nicht gleich wusste, was er meinte. Wenn ihn darüber eine Enttäuschung ankam, überspielte er sie sofort mit einem Lächeln: „Du erinnerst dich, der Kanzler sagte, wir könnten Gott …“
„Ja“, fiel ich dem Prä ins Wort: „dankbar sein, wenn er uns den Krieg ersparen würde.“
„Ganz recht. Und ich fragte dich …“
„Wie ich das verstehe, dass wir Gott dankbar sein können …“
„Wenn der Krieg vermieden werden kann“, vollendete der Prä nun meinen Satz.
Ich nickte. Der Prä sah mich an. Meine Antwort stand noch aus.
„Vielleicht …“
„Ja?“
Der Prä lächelte; ein wohlwollendes Lächeln, und ein erwartungsvolles.
Ich strengte mich an, brachte aber nur hervor: „Weil es keine Verletzten und Toten …“
„Ja?“
„… gibt.“
„Ganz recht! Wenn es keine Verletzten und Toten gibt, bleibt vielen Familien Leid erspart, behalten Kinder ihre Väter, und Ehefrauen ihre Ehemänner; Eltern ihre Söhne; Geschwister ihre Brüder und so weiter.“
„Ja.“
Der Prä sah mich an, dann fragte er: „Na, was steht heute in der Zeitung?“
Ich war eingeschüchtert wegen des Bekenntnisses, das ich soeben zum Wort des Kanzlers abgeben musste, und gekränkt, weil es der Prä sofort wieder geschafft hatte, mich aus meiner Begeisterung für die große Sache des Krieges herauszuholen. Was wollte er nur? Warum war er hier bei mir?
„Das russische Heer ist leicht zu schlagen!“ rief ich fast.
„So?“ entgegnete der Prä mit einem Lächeln. „Welchen Informationen entnimmst du deine These?“
„Da hat jemand ein Buch geschrieben über den russisch-japanischen Krieg …“
„Ja, Vikentij Veresaev; der russisch-japanische Krieg ist zehn Jahre her.“
„Aber es soll noch alles so sein wie damals, heißt es in der Zeitung.“
„Was soll so sein wie damals?“
Der Prä äußerte die Frage in einem Tonfall der Güte, die mich ergriff und beschämte, aber auch verdross, weil sie mir meine Unterlegenheit deutlich vor Augen führte.
„Ich will dich nicht examinieren – einer Prüfung unterziehen“, sagte der Prä. „Du meinst die Korruption, die angeblich im gesamten russischen Heer verbreitet ist, und schlichtweg die militärische Unfähigkeit, weil den Offizieren angeblich ihr persönliches Wohlleben über alles geht.“
„Ja, so steht es in der Zeitung“, sagte ich.
„Nun ja, es steht in der Zeitung“, meinte der Prä.
„Aber dann ist es doch auch so!“ rief ich.
Der Prä sah mich nur an und schwieg. Dann fragte er: „Hast du den gesamten Artikel gelesen?“
„Ja, den gesamten Artikel“, antwortete ich.
„Hast du jedes Wort verstanden?“
„Die meisten Wörter habe ich verstanden; so dass ich den Sinn des Artikels begriffen habe.“
Der Prä nickte mir zu.
„Welche Wörter hast du nicht verstanden?“
Ich überlegte kurz und zählte aus der Erinnerung auf: „Depot, Desinfektion, Mätresse.“
„Depot heißt ein Vorratslager; Desinfektion heißt Reinigung, dass keine Krankheitserreger mehr vorhanden sind; und Mätresse bedeutet so etwas wie eine Geliebte.“
Ich errötete, was der Prä bemerkte.
„Die Frage ist, warum ein solcher Artikel gerade jetzt erscheint – was meinst du?“
„Um den Deutschen zu zeigen, wie leicht sie gegen Russland siegen können!“ rief ich wieder.
„Ja, das sollen die Deutschen jetzt glauben“, entgegnete der Prä. „Hast du sonst noch etwas gelesen?“
„Seine Majestät, der Kaiser, sagt, kein Alkohol im Krieg … nicht wie im 70er Krieg…“
Der Prä warf mir einen traurigen Blick zu: „Was war im 70er Krieg?“
„Da haben die deutschen Soldaten französischen Rotwein getrunken. Aber jetzt sagt Kaiser Wilhelm II., diejenige Nation, die am wenigsten Alkohol trinkt, die gewinnt.“
„Wie alt bist du, Ludwig?“ fragte der Prä.
Ich schnaufte, aber ich war es nun schon gewohnt, merkwürdige Fragen gestellt zu bekommen vom Prä:
„Zwölf.“
„Ein Junge von zwölf Jahren, und plötzlich denkt er an Kriegsaussichten verfeindeter Nationen, an die vermeintliche Korruption in Wirtschaft und Heer eines fremden Landes oder an die Frage, ob Soldaten im Krieg Alkohol konsumieren sollen oder nicht. – Sind das die richtigen Themen für einen Zwölfjährigen?“
Der Prä sah mich an. Ich war beleidigt, aber zum ersten Mal spürte ich Überlegenheit gegenüber dem Prä. Mochte er noch so klug und respekteinflößend sein, mochte er die schönste Handschrift im gesamten Schülerheim besitzen und von uns allen am besten gekleidet sein – diesmal lag er falsch! Er stellte sich gegen Kaiser und Vaterland! Musste ich das nicht schließen aus seinen Äußerungen? Wie konnte er das tun?
„Ich glaube, Deine Gedanken zu erraten, Ludwig“, meinte der Prä. „Aber lass nur! Ich bitte dich nur um eines: dass du nicht aufhörst, dir deine eigenen Gedanken zu machen, ganz gleich, was du um dich herum hörst und als unumstößliche Wahrheit verkauft bekommst. Willst du mir das versprechen?“
Mir wurde es merkwürdig zumute bei dieser Ansprache. Als ob ich es nicht selbst wäre, antwortete ich:
„Ja, ich verspreche es.“
„Dann ist’s ja gut“, meinte der Prä. Er nickte mir zu und verschwand in Richtung seiner Wohnung wie gestern.