Ein Zauber leiht mir Schwingen, Fortsetzung


Ein Zauber leiht mir Schwingen

Anmerkungen zu Petrarca, dritter Teil

 

Wer sich mit Petrarcas „Sonette an Madonna Laura“ beschäftigt, sagte ich zu Juana, begibt sich in eine andere Sphäre des Denkens und Empfindens, als sie unseren Alltag prägt. Um das zu illustrieren, bleiben wir noch beim vierten Sonett (Sì traviato è ´l folle mio desio), sagte ich zu Juana; sein Hauptthema ist die Liebe und der Tod. Laura macht Petrarca sehn­süchtig, schwach, er müht sich in tausend Finsternissen und weiß, dass die Straße, auf der er schreitet, zum Tode führt. Was bedeutet das?, fragte ich Juana. Petrarca ist im­merhin siebzig Jahre alt geworden.[1] An der Liebe zu Laura ist er definitiv nicht gestorben, aber er vergleicht sie mit des Lorbeers herber Zier: / Wer, sie verkostend, hoffte zu ge­sunden, / Gesundet nicht, er stirbt an seinen Wunden. Ich fasse hier den Tod als Sinnbild für eine innere Revolution auf, die in Petrarca vorgegangen ist, sagte ich zu Juana. Seine Einbildungen und Eitelkeiten musste er als nichtig erkennen, seine Möglichkeiten, etwas zu kriegen, was er unbedingt haben wollte, als beschränkt oder regelrecht zu schwach erfahren; >der ganze Kerl< wurde umgewälzt und musste sich neu erfinden, hin zum schon angesprochenen Idealen, Erhabenen, Heiligen oder was auch immer. Einbildun­gen und Eitelkeiten abzulegen, fundamentale Schwäche zu erfahren in den Augenblicken grandioser Erhebung – das mochte Petrarca wohl zeitweise als Tod empfunden haben, auf den er zusteuere; in Wahrheit war es ein Schmelzofen, aus dem er verwandelt (soll ich >veredelt< sagen?, fragte ich Juana) hervorgegangen ist. Jedenfalls war er von nun an „für immer verloren für das gewöhnliche Dasein“, zitierte ich Hölderlin, dessen Laura bekanntlich Diotima hieß, sagte ich zu Juana. Wie oft habe ich mich im Laufe vieler Jahre mit einem Buch in der Hand zurückgezogen! Über meine Lektüreeindrücke mich auszu­tauschen in vertrautem Kreis – nicht im akademischen Lehrbetrieb – geschah dagegen selten oder nur in einer Weise, dass ich mich wunderte, wie wenig im Gespräch übrig blieb von der großen Resonanz, die manches Werk in meinem Innern ausgelöst hatte.[2]Jetzt soll es anders sein! sagte ich zu Juana. Sieh zum Beispiel das Sonett Se la mia vita dall´ aspro tormento, von Leo Graf Lanckoronski wunderbar nachgedichtet, so dass ich es hier vollständig zitieren will: Wenn abendlich des Silberhaars Bescheiden / Die ho­heitsvolle Stirn mit Milde schmückt; Dein schönes Auge, ferner mir entrückt, / Des Spie­gels Wahrspruch müde zu vermeiden / / Erlernte; wenn von Kränzen und Geschmeiden, / Die einst der Jugend muntres Herz entzückt, / Kaum noch ein Traum den stillen Sinn be­glückt; / Du leis dich rüstest, von der Welt zu scheiden: // Dann endlich will, Geliebte, ich dir sagen, / Was ich um dich gelitten Jahr um Jahr, / Dann will ich meine Schmerzen zu dir tragen, // Mein ganzes Elend, das so köstlich war. / – Vorbei ist dann die Zeit, zu spät die Stunde, / Und dennoch Balsam – Balsam meiner Wunde. – Ich habe sofort an Juve­nal Urbino in „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ gedacht; mehr als fünfzig Jahre ver­ehrt er Fermina Daza; „trotz zahlloser Affären und glänzender Karriere als Präsident der Karibischen Flussschifffahrtskompanie“, wie es in der Buchanzeige heißt, kann er Fer­mina nicht vergessen. Auch der von Laura >zurückgestoßene< Petrarca soll „seine Sin­nenglut bei anderen Frauen“ befriedigt haben, wie Maria Gräfin Lanckoronska formuliert. (Abgesehen davon, dass er auch verheiratet war, zwei Töchter und einen unehelichen Sohn hatte.) Dort eine fiktive Romanfigur aus dem 20. Jahrhundert, hier eine reale Per­son aus der Mitte des 14. Jahrhunderts – die Übereinstimmungen scheinen fundamenta­ler Art zu sein. Das trotz Zurückweisung fast ein ganzes Leben lang aufrecht erhaltene Gefühl muss einen Sinn erfüllen, es kann nicht einfach nur eine schmerzende Wunde sein – die jedermann – auch Petrarca! – zu schließen und zu heilen versuchen würde. Aber du hast Recht, die Antwort steht im Sonett: zwar handelt es sich um ein ganzes Elend, aber es war so köstlich! >Unter dem Strich< hat die Liebe zu Laura Petrarcas Le­bensgefühl gesteigert – worauf es ankommt bei jedermann, auch bei Petrarca, aber nur Leute wie er besitzen das Format, dieses >Lebensgefühl< zu entwickeln, zu steigern und für unglaublich lange Zeit (zunächst 21 Jahre, solange Laura noch lebte, dann noch einmal 26 Jahre, solange Petrarca selbst noch lebte) wirken zu lassen. Die Liebe sei kein Gefühl, das den Menschen >überkomme< – unabhängig vom Stand seiner persönlichen Reife, lehrt Erich Fromm. Aktivität ist das Zauberwort, und sie beginnt im Kopf, vor jeder äußeren Betätigung, sagte ich zu Juana. Aufhören, gegen sich selbst bequem zu sein!, mahnt Nietzsche. Fragen und zweifeln!, fordert Hermann Hesse in einem Gedicht[3] usw. Erfüllte Petrarca nicht all diese Lehren, lange bevor sie die genannten Autoren aufschrieben? Unterwarf er sich in den „Sonetten an Madonna Laura“ nicht einer permanenten Selbstreflexion, die Unbequemlichkeit, Fragen und Zweifel zur Grundlage hatten? Das ist die Manier des Forschers wie des Künstlers, der sich >auf die Spur< gesetzt fühlt und dennoch weiß, immer am Anfang zu stehn, sagte ich zu Juana. Petrarca war als Liebender ein Künstler, der Laura und sich selbst berühmt machte, indem er  zeigte, wozu die Liebe fähig machen kann – zu welchen Empfindungen, Gedanken und Taten. Er hat Lauras Schönheit >besungen<, dass ich dieses Lob der Schönheit unbedingt mit dir besprechen muss, sagte ich zu Juana, aber er ist nicht dabei stehen geblieben, sondern hat ihr >Herkommen< bedacht, ihr Alter vorweggenommen und ihren Tod vorausgeahnt. Die tote Laura hat sein Gefühl für sie nicht beendet, sondern verwandelt ins Religiöse … „Laura Noves ( … ), ‚Gattin eines Herrn de Sade’“, zitierte ich am Anfang leichthin Maria Gräfin von Lanckoronska. Dass Lauras Existenz schon zu Petrarcas Lebzeiten bestritten wurde und diese Zweifel bis heute anhalten, erwähnt sie nicht. Auf der einen Seite steht Petrarcas Entgegnung auf entsprechende Äußerungen seines Zeitgenossen Giacomo Colonna: „Dass ich den schönen Namen Laura erfunden habe, um von ihr sprechen zu können ( … ) während es in Wirklichkeit keine Laura in meinem Herzen gibt ( … ) Darin wenigstens wünschte ich, dass Du scherztest! ( … ) glaube mir: niemand kann ohne große Anstrengung auf lange Zeit etwas vormachen!“[4] Auf der anderen Seite findet sich beispielsweise Florian Neumanns Bemerkung: „(…) alle Versuche der Nachgeborenen, Laura mit der Tochter des Jean de Sade zu identifizieren oder in ihr die Tochter des Audibert de Noves wiederzuerkennen, die in jungen Jahren Hugues de Sade ehelichte, sind zweifelhaft.“[5]Hat Laura nicht Realität durch Petrarca gewonnen?, fragte ich Juana. Ist es nicht eindeutig, dass ihre reale Existenz nur als Auslöser fungierte, um Petrarcas Inneres aufzuwühlen und >in Gang zu setzen< zu einem der wirkungsmächtigsten lyrischen Werke des Abendlandes? Was bedeutet es da, wer sie >in Wirklichkeit< gewesen ist oder wo und wie lange Petrarca sie gesehen hat? Ist es nicht sogar denkbar, dass nur ein einziger Anblick oder eine einzige Geste alles Weitere in Petrarca auslösten und spätere Begegnungen ihm gleichgültig waren? Immerhin steht noch die Vermutung im Raum, es habe nicht einmal die >Auslöser-Laura< (Verzeihung wegen dieses unschönen Wortes!) gegeben. Dann hätte Petrarca >die ganze Geschichte< komplett erfunden, von A bis Z, und mit den Phasen seiner lyrischen Liebesgeschichte[6]nur einen Topos bedient. Davon gehe ich nicht aus, sagte ich zu Juana. (Aber gesetzt den Fall, bedeutete es eine unvergleichliche Großtat der Phantasie!, sagte ich zu Juana) Irgendeine >Auslöser-Laura< (oder zwei oder drei davon!) müssen ihm über den Weg gelaufen sein (das Leben hat das unweigerlich mit sich gebracht, sagte ich zu Juana), damit er an- und abheben konnte zu Sonetten und Kanzonen! (Jetzt muss ich an Shakespeare denken, sagte ich zu Juana, vielmehr an das, was ich über seine Arbeitsweise gelesen habe: Irgendein Passus in irgendeinem langweiligen, ver­staubten Historienschinken konnte ihn inspirieren zu „Hamlet“ oder „König Lear“ … Die Frage nach der >realen Existenz< Lauras erübrigt sich von daher, wiederholte ich vor Ju­ana; selbst wenn es keine >nachweisbare< Laura in Petrarcas Leben gegeben hat, hat es mit Sicherheit eine oder zwei oder drei nicht nachweisbare gegeben!) Und heute?, fragte ich Juana. Kann ein Mann eine Frau heute noch >besingen<?[7] Vertrüge sich das noch mit unserem nüchternen Zeitalter? Vertrüge es sich vor allem noch mit der Emanzi­pation der Frau, deren Interessen sich längst auf das Berufsleben und damit die Ausei­nandersetzung mit der Wirklichkeit erstreckt haben? Ist die Frau nicht längst zu einer Partnerin im öffentlichen Leben geworden, als dass sie noch als >Angebetete< taugen würde? … Die Schönheit ist eine unwiderstehliche Erfindung der Natur, sagte ich zu Ju­ana. Selbst der abgeklärteste und reifste Mensch erliegt noch ihrem Einfluss; wie viel mehr unterwirft sie uns andre ihrer Macht! Die Schönheit >funktioniert< nach einem Grundmuster, das die Natur in endloser Variationsmöglichkeit entwirft. Sie hat das stets Gleiche mit dem Individuellen verbunden, das beim Betrachter den Eindruck des noch nie Gesehenen hervorruft. (Wie macht sie das?, fragte ich Juana. Wie gelingt ihr die über­wältigende Fülle des Besonderen im Rahmen der Gattung?) Die Schönheit ist ein Adel (königlich im Kreis der schönen Frauenerblickt Petrarca Laura in Quando fra l´altre donne ad ora ad ora), eine durch die Geburt verliehene Hervorhebung und Bevorzugung. Sie nutzt sich beim Betrachter nicht leicht ab (LaurasAntlitz entzücktPetrarca aufs neu), sondern verleitet zum dauernden Hingucken und –gaffen. (Die angeguckten und begaff­ten Schönheiten empfinden diese Art von >Hervorhebung< und >Bevorzugung< auch als lästig, sagte ich zu Juana; sie wissen, was passiert, wenn ihnen ein fremder Mann entge­genkommt und wappnen sich mit einem Gemisch aus Abwehr und Desinteresse, tun so, als sei da niemand, der an ihnen vorübergeht.) Aber woraus besteht das Entzücken des Betrachters?, fragte ich Juana. Petrarca weiß sich in Lauras Anblick grenzenlos beglückt, / So unbeschreiblich holdist sie für ihn zu schauen. Heißt das nicht, dass Lauras Anblick für Petrarca Heimat bedeutet, wenigstens für einen Augenblick oder zwei? Und stell dir vor, sagte ich zu Juana: Diese Heimat ist selbst wieder eine Verheißung – ohne schmerz­lichen Drang, voll Vertrauen zu fernen, himmlisch klaren Auen! Es gibt also eine Di­mension, wo es >weitergeht< ohne Gefühl des Ungenügens oder der fiebrigen Span­nung, sondern im Gefühl des Angekommenseins und der Beruhigung! Das hat nichts mehr zu tun mit der Erde dumpfem Drang, es bedeutet vielmehr seine Überwindungzu Geistes Höhn. Auch das stellt wieder eine Meisterleistung der großen Baumeisterin dar, sagte ich zu Juana: Dass die Schönheit als >Hebel zur Sinnlichkeit< auf der anderen Seite Heimat und Geist assoziieren lässt! Dankbarkeit empfindet Petrarca, er segnet Laura im Sonett, nennt sie Geliebte, Gute, paradiesisch Reineund folgt ihr – ins Himmel­reich, das alles Sehnen endet.

 

(wird fortgesetzt)      

 

 

[1]Um genau zu sein, haben zwei Tage gefehlt, sagte ich zu Juana; jedenfalls meldet das mein Lexikon; Maria Gräfin Lanckoronska schreibt, Petrarca sei „in der Nacht zum 19. Juli 1374“ von einem Schlaganfall getroffen worden, „dem er in wenigen Stunden“ erlegen sei.

[2]Mit der Malerei oder Musik ist es nicht anders: In gelehrter Weise lässt sich viel darüber sagen, werden ganze Bibliotheken gefüllt, aber der Konzertliebhaber, der vielleicht nicht einmal Noten lesen kann, hat es ungleich schwerer, sein persönliches Gefallen oder gar seine Leidenschaft für die Musik verbal zu beschreiben. Was hat es damit auf sich?, fragte ich Juana. Haben wir es hier mit einer Sprache zu tun, die noch nicht erfunden ist? Warum halten wir es für normal, dass über Thomas Manns Romane unzählige akademische Abhandlungen verfasst werden, das Millionenheer der privaten Leser dagegen mehr oder weniger stumm bleibt?

[3]„Und wer von uns am wenigsten sich traut, / Am meisten fragt und zweifelt, wird vielleicht / Es sein, des Wirkung in die Zeiten reicht“, heißt es in „Nach dem Lesen in der Summa contra Gentiles“.

[4]Zitiert nach: Francesco Petrarca. Dargestellt von Florian Neumann. Reinbek bei Hamburg, Juli 1998, S. 44.

[5]Ebd., S. 46.

[6]Maria Gräfin Lanckoronska macht vier Phasen aus: Glück der ersten Begegnung, Zweifel an Lauras Gegenliebe, Gewissheit, dass sie ihn seelisch liebt, Klage und Verherrlichung nach ihrem Tod. ( a.a.O., S. 12 ) Mehr oder weniger deckungsgleich formuliert Florian Neumann: Lob der Schönheit Lauras, Freude und Leid des von der Aufmerksamkeit seiner Dame abhängigen Liebenden, Bewusstsein um die Unzulänglichkeit rein irdischer Liebe, Religiöse Themen ( a.a.O., S. 43 ).

[7]Ein umgekehrter Fall von Petrarcas Dimension ist mir nicht bekannt, sagte ich zu Juana. Die Frauen, welche die romantischsten Gefühle bei Männern wecken, sind ihrerseits in der Liebe um genau denGrad zu nüchtern, der sie ebenfalls zu Sonetten und Kanzonen veranlassen würde. Ich sage das nicht in wertender Absicht, sagte ich zu Juana; irgendeinen Grund wird die Natur dabei gehabt haben; vielleicht dass den Frauen in der Liebe der Part der Auswahl zukommt und sie dafür bei aller eigenen Verliebtheit einen Rest von kühlem Verstand bewahren müssen.