Eine Rede


Eine Rede

 

Meine lieben Leute!

Hier stehe ich nun vor diesem erbärmlich leeren Saale und deklamiere meine Worte in die endlose Weite unbelebter Stuhlreihen. Lange habe ich mit mir gehadert, ob ich meinen Vortrag halten soll, denn ohne Publikum zu sprechen, ist eine mehr als unbefriedigende Angelegenheit.

Wären Sie persönlich und körperlich anwesend, meine sehr verehrten Damen und Herren, wäre es mir sehr viel angenehmer, jetzt zu sprechen. Ich würde mir viel selbstbewusster, üppiger, in mentaler Hinsicht fülliger vorkommen, so als hätte ich dreizehn glitzernde Orden an meinem Latz. So aber, liebe Leute, grenzt es an eine Tragödie, dass ich in eine leere Halle rede, sülze, ja lalle, weil niemanden das, was ich zu sagen habe, interessiert, weil nämlich, verehrtes Publikum, Sie nicht da sind, meiner Veranstaltung ferngeblieben.

Nur die vier Wände und die Decke hier erfahren jetzt, was ich Wichtiges mitzuteilen habe, nämlich, dass wir zusammenstehen sollten in solch schwierigen Zeiten, dass Achtsamkeit nicht etwas ist, das nur mir selbst gegenüber angewandt werden sollte und dass Nachhaltigkeit nicht nur ein Begriff für Umweltfragen ist, sondern für alle Lebensbereiche gelten sollte, ja für die Liebe, für die Freundschaften, für unser menschliches Miteinander, für alle Entscheidungen, die wir treffen.

Meine lieben Leute, verehrtes Publikum, sehr geehrte Damen und Herren, könnt ihr, können Sie mich trotzdem vernehmen?

Nein, verehrter Vortragssaal, liebe Stühle, nur ihr allein nehmt mich zur Kenntnis, verhalten reagiert ihr auf mich, die ich zu euch gesprochen habe.

Ich höre jetzt auf.

Ein Windstoß zischt durch die angelehnte Flügeltür.

Ich trete ab, verlasse das Podium, höre das Klackern meiner Absätze auf den Stufen.

Adieu.