Feldpostbriefe, Fortsetzung


Feldpostbriefe

Erzählung, zweiter Teil

 

Um sechs Uhr dreißig klingelt mein Wecker, wenn ich – wie heute – Frühdienst habe. Er beinhaltet das Wecken der Schüler um sechs Uhr fünfzig, die Aufsicht darüber, dass sie sich waschen, anziehen, ihre Betten richten, pünktlich um sieben Uhr zwanzig in der Kapelle sind zum Gebet – und dies alles unter strengstem Stillschweigen, dem sogenannten Silentium, das sich vom Abendgebet in der Kapelle bis nach dem Morgengebet erstreckt.

In der Kapelle zitiere ich meistens aus der Bibel (nicht immer das Evangelium des Tages) und stelle meine Betrachtungen darüber an. Das Morgengebet kann aber auch nuraus einem „Impuls“bestehen; dann zitiere ich einen Dichter oder Philosophen und stelle darüber Betrachtungen an. Gelingt es mir zu so früher Stunde, einen Gedanken zu äußern, der bei den Schülern „hängenbleibt“ und mir selbst „gefällt“, dergestalt, dass ich ein inneres Lächeln erlebe, obwohl ich am liebsten noch in meiner „Schlafhöhle“ bis zum Mittagessen liegen bleiben würde?

Nach einigen Minuten begleite ich die Schüler durch den Kapellengang in den Speisesaal zum Frühstück und überzeuge mich noch vom ordnungsgemäßen Verlauf. Das Frühstück ist frugal: Brot, Margarine, wochenlang die gleiche Konfitüre, dünner Malzkaffee. Die Schüler sind es gewohnt und beklagen sich nicht – dachte ich bisher. Aber gestern Abend hat mich der Haussenior der Schülerschaft, Bernhard F., ein Unterprimaner, gefragt, ob es erlaubt sei, Dosenwurst von zu Hause mitzubringen und beim Frühstück und während der nachmittäglichen Kaffeepause zu verzehren. „Ich bespreche es am Herrentisch“, habe ich geantwortet; ein solches Anliegen muss ich dem Rektor vortragen.

Der „Herrentisch“ befindet sich dort, wo Rektor Mergler, Dr. Freitag und ich die Mahlzeiten einnehmen: Frühstück und Nachmittagskaffee getrennt von den Schülern im „Herrenzimmer“ (einem nur dem Erzieher-Personal vorbehaltenen, mit etwas gehobenem Geschmack möblierten Raum, nicht weit von der Küche entfernt), Mittag- und Abendessen mit den Schülern im Speisesaal. Sind alle Jungen mit ihren Schultaschen zu städtischen Schulen aufgebrochen, beginnt um acht Uhr das „Dienst“-Frühstück.

 

Der Rektor erscheint wie immer im schwarzen Priestergewand, bittet Dr. Freitag und mich zu Tisch, spricht ein kurzes Gebet und wir beginnen. Dr. Freitag legt mit der rechten Hand die Hand seines linken Arms auf den Tisch neben seinen Teller. Beim Brötchenaufschneiden oder Brotschneiden helfe ich ihm; ein Blick genügt. Ich freue mich auf den Bohnenkaffee und das Frühstücksei. Im Vergleich mit dem Frühstück der Schüler sind wir Erzieherbessergestellt. Aber wir hätten kein Geld, um die Schülerschaft – derzeit 107 Jungen (nein, es sind nur noch 105 Jungen, nachdem zwei vor den Weihnachtsferien relegiert wurden!) – mit Bohnenkaffee zu versorgen, der für die Jüngeren ohnehin noch nicht ausgegeben werden dürfte; desgleichen beim Frühstücksei, auch wenn dies alle 105 Jungs vertilgen dürften. Nur an Sonntagen kriegen auch die Jungen ein Frühstücksei; es ist der einzige Tag, an dem wir Erzieher mit den Jungen zusammen im Speisesaal den Morgenkaffee trinken.

Das Anliegen des Hausseniors Bernhard F. stimmt den Rektor skeptisch.

„Dosenwurst muss kühl lagern, wenn sie geöffnet ist. Wie soll das geschehen? Stellen Sie sich vor, im Sommer!“

„Wir hätten ein Gefälle in der Schülerschaft: die mit und ohne Dosenwurst“, wirft Dr. Freitag ein.

Der Rektor nickt ihm beifällig zu und sagt dann:

„Nein, nein, das lassen wir erst einmal.“

Zu mir gewandt:

„Antworten Sie Bernhard F. mit diesen beiden Argumenten. Leider müssen wir nein sagen.“

Der Rektor räuspert sich:

„Im nächsten Elternbrief will ich zwei Neuerungen verkünden, meine Herren: Wir müssen dazu übergehen, das Pensionsgeld für zwölf Monate im Jahr zu erheben. Die Lebenshaltungskosten sind nach dem Krieg immer weiter gestiegen, den zwölften Monat brauchen wir, um die hohen Generalkosten unseres Hauses – Wasser, Licht, Heizung, Löhne, Steuern und so weiter – zu begleichen.“

„Das werden die Eltern einsehen“, meint Dr. Freitag.

Ich nicke nur mit dem Kopf und räuspere mich zustimmend.

Dr. Freitag und ich sehen den Rektor an. Wie lautet sein zweiter Punkt?

„Auch die Wäsche können wir nicht mehr übernehmen. Wir haben im vergangenen Jahr zu viel draufzahlen müssen. Entweder bringen die Jungen die Wäsche für das Semester gleich aus den Ferien mit oder aber es gehen ein paar Pakete hin und her, wie das ja auch sonst geschieht. Soviel ich weiß, ist bisher noch kein Paket verloren gegangen.“

„Verschiedene Jungen haben ihre Wäsche immer schon daheim waschen lassen“, werfe ich ein, weil ich merke, dass es nun an mir ist, mich flankierend zu äußern.

Der Rektor nickt.

„Könnten manche Jungen ihre Wäsche selbst und auf eigene Kosten in die hiesige Waschanstalt geben, wenn sonst gar keine Möglichkeit für sie besteht?“, fragt Dr. Freitag.

Der Rektor überlegt kurz, dann sagt er:

„Ja, aber ich hoffe, es bleibt die Ausnahme.“

„Was soll mit der schmutzigen Wäsche geschehen?“, fragt Dr. Freitag noch.

„Wäschesäcke“, entgegnet der Rektor, „die Jungen sollen sie von zu Hause mitbringen. Sie können aus irgendwelchen Stoffresten gefertigt sein, vielleicht die Öffnung mit einem elastischen Band versehen – auch ein Punkt für den Elternbrief … ach, und die Nummer muss drauf! Erinnern Sie mich daran, falls ich es vergessen sollte!“

Dr. Freitag und ich nicken mit den Köpfen.

„Hoffentlich haben die Eltern Verständnis für diese Maßnahmen“, sage ich.

„Das werden sie!“, ist sich der Rektor sicher. „Auf diese Weise können wir ihren Jungen ihr Schülerheim erhalten und sichern.“

Dankbar nicke ich dem Rektor zu. Das „Schülerheim erhalten und sichern“ – das ist auch mein großer Wunsch. Wohin sollte ich sonst gehen? Wo fände ich eine Arbeit buchstäblich vor meiner Wohnungstür? Wo könnte ich während der Arbeit meinen Gedanken nachhängen? Wo fände ich noch einmal eine „Schlafhöhle“ wie hier im Schülerheim in B.?

Auch Dr. Freitag wird persönliche Gründe haben, die Fortführung des Schülerheims zu wünschen. Mit einem unbrauchbaren linken Arm befindet er sich seit Ende der Weihnachtsferien wieder in halbwegs adäquater Stellung, wenn auch nur bescheiden bezahlt. Wir waren beide im Krieg. Wir wollen weiterleben und haben gleichzeitig den Wunsch, uns auszuruhen wie nie zuvor.

Der Rektor erwartet, dass ich in absehbarer Zeit auf meine „niedere Weihe“ als Katechet die Priesterweihe draufsattle. Er spürt, dass es momentan „noch nicht geht“ und respektiert dies, aber auf Dauer erwartet er es. Immerhin bin ich alles andere als untätig. Neben meinen Aufgaben im Heim erteile ich zweimal wöchentlich Religionsunterricht sowohl an der Aufbauschule als auch an der Berufsschule. Dazu veröffentliche ich seit einigen Jahren Artikel mit regionalgeschichtlicher Thematik in Geschichtsblättern und wissenschaftlichen Zeitschriften, was mir beim Rektor freilich nur einen halb anerkennenden, halb zweifelhaften Ruf einträgt, weil die Publikationstätigkeit mich ablenken könnte von meinem Brotberuf. Ich habe ihm aber versichert, dass die Texte Früchte meiner Ferienarbeit seien, wo ich mich gerne in alte Schriften versenken würde. Das hat er mit Befriedigung gehört. Zum großen Teil stimmt es auch.

Statt eines gekochten Frühstückeies, wie es der Rektor und ich allmorgendlich auslöffeln, erhält Dr. Freitag von der Küche ein Spiegelei, manchmal auch ein Rührei mit Speck, das kann er mit der Gabel zerteilen und zu sich nehmen. In den ersten Tagen seines Dienstes im Heim hat ihm die Küche belegte Brote bereitet, aber er ist dazu übergegangen, sich einhändig die Brote selbst zu schmieren und zu belegen. Als ihn der Rektor dabei zum ersten Mal beobachtete, meinte er, Seine Majestät Wilhelm der Zweite (er sagte immer noch „Seine Majestät, Wilhelm der Zweite“) habe es auch geschafft, den Alltag zu bewältigen mit nur einer gesunden Hand. Daraufhin stieß Dr. Freitag Luft aus der Nase, nickte mit dem Kopf, sagte aber nichts.

„Übrigens haben wir Geld versprochen bekommen“, meldet sich der Rektor wieder zu Wort. „Eine Spende des hessischen Regierungspräsidenten für die Anschaffung von Sportartikeln, ich wollte es Ihnen schon gestern Abend sagen. Was halten Sie von neuen Bällen, Kugeln, Hochsprungständern und Wimpelspeeren?“

„Wimpelspeere?“, fragt Dr. Freitag.

Der Rektor nickt.

„Wir müssen dabei natürlich auf die Sicherheit achten, auch bei den Metallkugeln. Oberstufenschüler können uns helfen; Ihre Obersekundaner, Herr Dr. Freitag.“

„Selbstverständlich, Herr Rektor.“

„Auch meine Primaner können dazu etwas leisten“, fährt der Rektor fort, „insbesondere natürlich die Unterprima.“

Nach einer kleinen Pause sagt wieder der Rektor:

„Haben Sie gelesen? Bei der nächsten Deutschen Leichtathletik-Meisterschaft im August sollen auch Frauen teilnehmen.“

„Aha! – Wo gelesen?“, frage ich.

„Im Anzeiger“, antwortet der Rektor.

„Nein. Tatsächlich? In welchen Disziplinen?“

„Wenn ich mich recht erinnere, Hundertmeterlauf, Staffellauf und Weitsprung … ach, und Kugelstoßen.“

„Kugelstoßen?“, fragt Dr. Freitag mit ungläubiger Stimme.

„Ja, auch Kugelstoßen ist dabei“, bekräftigt der Rektor, „ich nehme an, die Kugeln für die Frauen sind etwas leichter als die für die Männer. – Nun, meine Herren, was halten Sie davon?“

Mir ist es egal. Sollen die Frauen teilnehmen an der Deutschen Meisterschaft in Leichtathletik! Sollen sie Kugeln stoßen wie die Männer, wenn auch vielleicht etwas leichtere Kugeln. Haben die Frauen nicht auch im Krieg Männerarbeit geleistet? Sind sie mit der neuen Verfassung nicht wahlberechtigt wie die Männer? Aber ich hüte mich, dies zu äußern, weil ich die Kirche kenne und weiß, dass sie das öffentliche Sporttreiben von Frauen bestimmt verurteilt „aus moralischen Gründen“.

„Der Krieg hat alles verändert“, sage ich, „jetzt treiben sogar die Frauen in der Öffentlichkeit Sport.“

Ich bin froh, dass der Rektor meine ausweichende Antwort akzeptiert und nicht nachhakt. Er schaut stattdessen Dr. Freitag an, damit er seine Meinung zur Beteiligung der Frauen kundtut.

„Ich habe zu solchen Fragen keine Meinung“, sagt Dr. Freitag, „aber es würde mich interessieren, was die Kirche dazu sagt.“

„Vielleicht gibt es ein Hirtenwort“, mutmaßt der Rektor. „Aber werden sich die Frauen daran halten? Wie Sie schon sagen, Herr Präfekt: Der Krieg hat alles verändert.“

„Ja“, gibt Dr. Freitag unerwartet von sich und nickt dazu.

Der Rektor und ich schauen uns an.

„Beim Mittagessen müssen wir die kommenden Veranstaltungen im Heim besprechen“, durchbricht der Rektor den Schweigemoment, „es gibt außerdem eine Reihe von Punkten, bei denen wir besonders auch die Eltern ins Boot holen müssen.“

Ich nicke wieder zustimmend mit dem Kopf und gebe einen entsprechenden Laut von mir. Auch Dr. Freitag ermannt sich dazu. Wieder nach einer kleinen Pause lässt uns der Rektor an einem seiner Gedanken teilnehmen; er spricht leise, aber laut genug zum Verstehen:

„In der ‚Ilias’ ist, glaube ich, schon die Rede von einem Wurfwettbewerb mit schweren Steinen, ich weiß allerdings nicht mehr genau, wo die Stelle zu finden ist.“

Er schaut uns an und lächelt, spricht ein kurzes Gebet, das Frühstück ist beendet.

 

(Fortsetzung folgt)