Feldpostbriefe
Erzählung, letzter Teil
Die Abendaufsicht endet um 22.30 Uhr. Auf dem Weg zu meiner Wohnung im ersten Obergeschoss begegnet mir im Treppenhaus der Rektor, der – nach einem Rundgang an den Schlafsälen vorbei – wie ich ihn kenne, zu seiner Wohnung geht, die sich im zweiten Obergeschoss in einem Vorbau befindet. Er nickt mir zu und sieht mich fragend an.
„Dr. Freitag hat doch die Abendaufsicht!“
„Wir haben getauscht, er übernimmt morgen meine Aufsicht.“
„Dann haben sie beide Morgen- und Abendaufsicht an einem Tag zu versehen!“
„Ja, so ist es!“, sage ich und lege einen Hauch Unwillen in meine Stimme, dass Mergler über das Thema schweigen solle. Es funktioniert auch, denn er fragt:
„Alles ruhig geblieben?“
„Alles ruhig geblieben!“
„Auch dieser Sextaner, dieser Schramm?“
„Auch der!“
„Den Burschen muss man im Auge behalten. Er ist widersetzlich. Was halten Sie von ihm?“
„Ich erlebe ihn auch anders. Er liest viel und im Dritten Studium schreibt er eigene Geschichten auf, klebt die Blätter zusammen und legt sie in eine grüne Mappe, die er in seinem Fach verwahrt.“ (Das „Fach“ ist ein abschließbares Fach in einem Wandschrank, das jedem Schüler der Unter- und Mittelstufe zusteht.)
„So, nicht im Pult, sondern im Wandschrank ‚verwahrt’ er die Mappe“, meint der Rektor und betont das Wort „verwahrt“ ironisch.
Ich nicke nur.
„Vielleicht hat der Bursche bei Ihnen einen zu großen Stein im Brett.“
„An seinem Verhalten muss Tobias Schramm zweifellos noch feilen. Vielleicht funktioniert es am besten, wenn er Förderung und Bestätigung erfährt“, widerspreche ich dem Rektor und füge hinzu: „Sein Elternhaus scheint mir nicht das beste zu sein.“
„So? Nun ja … wir werden sehen! Gute Nacht, Herr Präfekt!“, verabschiedet sich der Rektor, ohne zu fragen, warum ich das Elternhaus des Jungen bezweifle.
„Gute Nacht, Herr Rektor!“
Der Rektor wendet sich zum Gehen, dreht sich dann aber noch einmal um und sagt:
„Mir fällt die Stelle in der ‚Ilias’ einfach nicht mehr ein, wo von einem Wurfwettbewerb mit schweren Steinen die Rede ist.“
Als Antwort genügt ihm mein Lächeln. Vielleicht gibt es die Stelle gar nicht. Wir denken, wir verstehen die Antike und das Christentum. Für Mergler bilden sie das Fundament seiner Weltanschauung, der Krieg hat daran nichts geändert.
Ich gehe durch das Treppenhaus, das nur noch von der Notbeleuchtung erhellt wird. Das gusseiserne Geländer trägt einen hölzernen Handlauf, der im Abstand von einem Meter Metallkugeln aufgeschraubt hat, damit kein Schüler auf die Idee kommt, die Strecke vom zweiten ins erste Obergeschoss oder vom ersten in das Erdgeschoss rutschend zu bewältigen. Wenn das Haus längst kein Schülerheim mehr ist und einem anderen Zweck dient, denke ich, vielleicht eine Behörde beherbergt oder zum Rathaus der Stadt B. erhoben wird, wenn gewaltige Umbauten im Innern stattgefunden haben, zum Beispiel in jedem Stockwerk Zwischengeschosse eingezogen worden sind, was die hohen Decken überall jederzeit hergeben, kurz gesagt, wenn jemand wie ich das ehemalige Schülerheim im Innern nicht mehr erkennen könnte, werden nur noch das gusseiserne Treppengeländer mit dem hölzernen Handlauf und den aufgeschraubten Metallkugeln Zeugen der alten Zeit sein – in der ich gerade über den Flur im ersten Obergeschoss zu meiner Wohnungstür trete.
Den Schriftzug des Schildes in Augenhöhe kann ich kaum erkennen:
Sigurd Framm
Präfekt
Ich öffne die erste Tür zu meiner Wohnung und wende den Blick nach links, wo in Augenhöhe an der Zarge eine Hinweistafel angebracht ist, ziehe einen kleinen roten hölzernen Kegel aus dem Loch neben der Information „im Haus“ und stecke ihn in das Loch „bitte nicht stören“ (es ist das fünfte Loch unten und ich fahre zur Sicherheit mit dem linken Zeigefinger die Löcher von oben ab; übrigens steckte dort auch gestern der Kegel, als mich Dr. Freitag mit den Feldpostbriefen überfiel), ziehe den Schlüsselbund an der Kette aus meiner Hosentasche, ertaste die Plastikmarkierung am Schlüssel für meine Wohnungstür und schließe auf. Meine Wohnungstür ist meine „Haustür“, ich schließe sie hinter mir ab, nachdem ich zuvor die erste Tür, die ohne Schloss ist, zugezogen habe.
Jedes Mal atme ich auf, wenn ich nach dem Dienst in meiner Wohnung bin. „Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst“, heißt es, glaube ich, im kürzlich erschienen „Demian“ von Hermann Hesse. Deuten kann jeder einzelne sich selbst, wenn er allein ist. Die Einsamkeit bedeutet Heimat; aber ich weiß auch, dass ich mich bewähren muss in der Gemeinschaft. Hier im Schülerheim und im Unterricht funktioniert es noch, dass ich mich „bewähre“. Wenn ein „Einbruch“wie heute im Sportgeschäft sich nur nicht wiederholt.
„Demian“ erklärt den Krieg damit, dass wir alle wie die Lemminge hinter dem Kaiser und den schönklingenden Parolen hinterhergelaufen sind. Wer wollte selbst denken, statt sich das Denken abnehmen zu lassen? Weil wir zu Millionen versagt haben, kam es zum Krieg. Wir taugten nichts, Werner L. taugte nichts und ich taugte nichts, denn ich bin mitgelaufen, im wörtlichen Sinn bin ich ein Mitläufer gewesen über vier Jahre lang, ein Mitrenner, Mitschießer, Mitschanzer und Mitbefehlsempfänger – warum, wozu?
Ich habe vergessen, kochendes Wasser von der Küche hochzubringen für meinen Tee. Ich ärgere mich. Eine Behagensminderung. Wenigstens den Tee brauche ich. Also beschließe ich, noch einmal runterzugehen in die Küche und das Versäumnis gutzumachen. Auf dem Weg über den Flur und das Treppenhaus, durch den Speisesaal und einen Zwischenraum, wo Besteck und Geschirr gelagert sind, zur Küche denke ich an Max. Während einer Feuerpause im Graben unterhielten wir uns. Ob ich Schach spielen könne? Wir kamen ins Gespräch über das Spiel auf den 64 Feldern und wie schön es war, sich in diese Umgrenzung zu flüchten! Ich fragte ihn nach seinen Lieblingseröffnungen, er konnte darauf antworten: Spanisch und Italienisch, auch Königsgambit. Und ich? Welche Eröffnungen bevorzugte ich? „Flankeneröffnungen“, antwortete ich. Die offenen Spiele würde ich vermeiden, als Weißer wie als Schwarzer. Stattdessen mit Weiß 1.c4 spielen. „Sizilianisch im Anzug!“, rief Max. Ich entgegnete, dass ich die Eröffnungsbezeichnung „Englisch“ vorziehen würde. Max nickte und fragte: „Und als Schwarzer?“ „Am liebsten Caro-Kann.“ „Ah, Caro-Kann!“, rief Max. Er war genauso glücklich wie ich, dass er den Krieg aus dem Kopf bekommen konnte, was Verzweiflung war, denn das Kommando zum nächsten Sturmangriff – raus aus dem Graben und gegen das Feuer der Franzosen anrennen! – konnte nicht mehr lange auf sich warten lassen. „Spielen wir eine Partie Caro-Kann?“, rief er. „Du hast Schwarz!“ – „Du meinst blind?“ – „Ja!“ – „Gut! Fang an!“ – „e4“. – „c6“. – „d4“. – „d5“. Max überlegte. Ich sagte: „Jetzt kannst du die Blockadevariante mit e5 spielen oder du schlägst meinen Bauern auf d5.“ – „Nein, ich spiele die Hauptvariante mit Springer c3.“ – Oh, er kennt sich wirklich aus!, dachte ich noch und setzte an zu sagen: „d5 schlägt …“ – als der Angriffsbefehl erfolgte. Eine Anhöhe sollten wir erobern, auf der die Franzosen mit MGs saßen, übrigens zum dritten Mal hintereinander. Jedes Mal waren wir abgeschmettert worden unter hohen Verlusten; buchstäblich umgemäht.Wir schmissen uns hin und suchten hinter kleinen Erdhügeln Deckung. Die Verwundeten schrien. Einer besonders. Auch der Leutnant hielt es nicht mehr aus. „Gib ihm den Gnadenschuss! Los, gib ihm den Gnadenschuss!“, befahl er dem zunächst liegenden Soldaten. Die Franzosen schrien von der Anhöhe herab, dass wir verschwinden sollten. „Dégagez! Foutez le camps!“. Ihren Gesten war anzusehen, dass sie uns für verrückt hielten. Sie hatten keine Lust mehr, uns reihenweise abzuschießen. Dann kam der Befehl zum Rückzug. Wer noch lebte, robbte sich zurück in den Graben. Vereinzelte Schüsse. Ich hatte Glück, blieb sogar unverletzt und versuchte Max zu finden – vergeblich! Damals dachte ich, es dauert nicht lang, Max, dann spielen wir unsre Caro-Kann-Partie zu Ende.
Zurück in meine Wohnung. Das Stövchen, die Kerze und Schuberts B-Dur-Sonate von 1828. Die Musik des jubelnden oder reinen und frohgemuten Anfangs; des unbegreiflichen, quergewandten Einbruchs; des Versuchs, wieder anzuknüpfen an den Jubel und Frohmut des Anfangs, der nie mehr ganz gelingen will. Zurück in den Sessel. Kein Erstarren! Wer sollte mich entschädigen? Ich setze auf den Tee und jeden Tastenschlag der Pianistin.