Franziska Kessel


„Vorläufig bin ich noch in Einzelhaft“ – Franziska Kessel (1906-1934)

Teil 2

 

Rauschhafte politische Aktivität

 

„Die wenigen Jahre der Freiheit“ zwischen ihren beiden Haftstrafen (von der Entlassung aus der Festungshaft Frankfurt-Preungesheim am 10. Juli 1931 bis zur erneuten Verhaftung am Ludwigsbrunnen in Bad Nauheim am 4. April 1933) seien für Franziska Kessel zu einer Zeit „rauschhafter politischer Aktivität“ geworden, schrieb Daniel Baczyk im „Darmstädter Echo“[1]. Als Leiterin der Frauenabteilung bei der Bezirksleitung der KPD Hessen-Frankfurt a.M. wurde die junge Kommunistin rasch zu einer bekannten Rednerin ihrer Partei. Die Frankfurter „Arbeiter-Zeitung“ kündigte am 26. Februar 1932 in Hanau in der Zentralhalle im Rahmen einer „öffentlichen Frauenversammlung“ ihren Vortrag zum Thema „Die Stellung der Frau zur politischen Lage“ an; am 12. Oktober 1932, „abends 8 Uhr“ in Wiesbaden im Galeriesaal des Paulinenschlösschens den Vortrag „Wie lebt die Frau unter dem Bolschewismus?“ oder „Freitag abends 8 Uhr“ beim „Proletarischen Unterhaltungsabend“ im „Lokal Eigenheim (Industrie, Sonderhausenstr.)“ in Frankfurt einen weiteren Vortrag.[2] In diese Zeitspanne fiel ihr Reichstagsmandat für die KPD vom Juli 1932 bis zum März 1933. Als die KPD nach der Reichstagswahl vom 5. März endgültig verboten wurde, arbeitete Franziska Kessel als „Instrukteur“ (Instrukteurin) und bereitete die KPD-Ortsverbände auf die Illegalität vor, schärfte ihnen konspirative Verhaltensmaßnahmen ein, verteilte Propagandamaterial, knüpfte Kontakte und suchte nach Unterstützung für Familien mit verhafteten Genossen. Für den Antifaschistischen Arbeiterkongress im Juni 1933 im Pariser Salle Pleyel sammelte sie auf ihren Reisen durch den Bezirk Hessen-Frankfurt Zeugenaussagen für den faschistischen Terror. Am 18. März 1933 geriet sie selbst in den Fokus dieses Terrors, als vom Landeskriminalpolizeiamt Darmstadt ein „Schutzhaft“-Ersuchen gegen sie ausgestellt wurde.

 

Franziska Kessel prägte die Arbeit der Kommunistischen Partei durch ihren Idealismus und ihr propagandistisches Engagement. In einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft hoffte sie, die ökonomischen (und vielleicht auch emotionalen) Entbehrungen ihres Herkommens zu überwinden. Heute erinnert man sich ihrer „Quirligkeit“ (Philipp Benz[3]) und „außerordentlichen Zivilcourage“ (Erika Buchmann[4]) sowie des Martyriums, das die begabte junge Frau wegen ihrer politischen Ansichten erleiden musste.

 

„Vorbereitung zum Hochverrat“ – Haftstrafen in der Weimarer Republik und Hitler-Deutschland

 

„Im Namen des Reichs“ wurde „die Stütze[5] Franziska K e s s e l in München, Valeppstraße 1 I bei Dufter, geboren am 6. Januar 1906 in Köln a/Rh., ledig, preußische Staatsangehörige […] wegen Vorbereitung zum Hochverrat“ vom Reichsgericht Leipzig „zur Festungshaftstrafe von einem Jahr“ verurteilt und die Richtigkeit und Vollstreckbarkeit des Urteils am 14. Juni 1930 bescheinigt. Was hatte die Vierundzwanzigjährige nach Meinung des Gerichts verbrochen und wie war sie nach München gekommen? Erika Buchmann berichtet, dass Franziska Kessel in München Haushaltshilfe und Kindermädchen für ihre und ihres Mannes, des KPD-Reichstagsabgeordneten Albert Buchmann (1894-1975) kleine Tochter gewesen sei, „damit auch die Mutter wieder für die politische Arbeit frei wurde […] Braungebrannt, flinke Augen in dem schmalen Gesichtchen, frisch und unendlich liebenswert“ sei sie in den neuen Kreis getreten. „Die kleine Inge bekam eine zärtliche Pflegerin und einen unendlich geliebten Kameraden. Zissy stand schnell inmitten eines grossen Kreises junger, begeisterter, sozialistischer Menschen“, heißt es in dem an Agitprop-Tonfall erinnernden Text. „Seite an Seite mit ihnen lebte und kämpfte sie, übernahm Funktionen in der kommunistischen Bewegung, besuchte Versammlungen und Kurse, wanderte an den Sonntagen mit frohen, jungen Menschen in die geliebten Berge, kam begeistert und braungebrannt zurück an die Arbeit und in die Kinderstube.“[6] Auch die Arbeit als „Stütze“ hielt Franziska Kessel nicht von politischer Tätigkeit und Propagandaarbeit ab. Als sie unter bayerischen Polizisten einschlägiges Material verteilen wollte, wurde ihr – und einem Kreis ihrer Gesinnungsgenossen – der Prozess gemacht. In der Sitzung des vierten Strafsenates des Reichsgerichtes Leipzig vom 13. und 14. Juni 1930 wurde geurteilt: „Sie ist eine überzeugte Kommunistin; nach ihrem Auftreten und ihren Äußerungen in der Hauptverhandlung hängt sie der KPD mit leidenschaftlicher Ergebung an und ist sie bereit, die revolutionären Ziele der Partei mit allen Mitteln zu fördern.“[7] Als sie zum Strafantritt in die Haftanstalt Frankfurt-Preungesheim befohlen wurde, soll der Abschied von ihrem Pflegekind „schmerzlich“ gewesen sein, „aber stolz und mutig“ sei „Zissy mit den Freunden zum Bahnhof“ gegangen und habe gesagt: „Macht Euch um mich keine Sorgen, ich hau mich schon durch. Bleibt an der Arbeit und macht’s gut!“[8] An der Arbeit blieb Franziska Kessel auch in der Haft – indem sie marxistische Literatur studierte und sich zudem im Austausch mit einer „führenden Berliner Funktionärin der kommunistischen Partei“, einer „in langen Kampfjahren erprobten Genossin“[9] ideologisch schulen konnte. Der Briefkontakt mit den Münchner Freunden war rege. Einmal schrieb sie: „Heute war ich erstaunt, als man sagte, dass Samstag sei. Schnell ist mir die Zeit vergangen und ich habe keinen Moment Langeweile gehabt. Es sollen noch zwei Genossinnen kommen – so wäre für ein Frauenkollektiv gesorgt. Wenn sie nur bald kämen – sie wissen garnicht, mit welcher Neugier und Sehnsucht sie erwartet werden! Abends und morgens will das Vogelgezwitscher gar kein Ende nehmen. Wenn alles klar ist, kann ich am Horizont die Erhebungen des Taunus sehen.“[10]

Die Stelle verrät, dass Langeweile und Ödnis des Haftalltags vielleicht doch nicht spurlos an der Gefangenen vorübergingen, weil sie die Gesinnungsgenossinnen mit „Neugier und Sehnsucht“ erwartete. An Rosa Luxemburgs „Briefe aus dem Gefängnis“ lassen die Naturbeobachtungen denken, welche die beiden Kommunistinnen mit hinter Gittern verfeinerten Sinnen anstellten. An einen „ebenfalls eingesperrten Freund aus Münchener Tagen“ schrieb Franziska Kessel: „Was hast Du für eine Zelle? Wie lange darfst Du auf dem Hof sein? Alles möchte ich gerne wissen. Vor allen Dingen bin ich neugierig, was Du schon gelesen hast. Das solltest Du systematisch tun, den Stoff gründlich durcharbeiten, viel davon aufschreiben, Notizen machen. Auch das muss man lernen. Jeder hat seine besondere Methode. Auf jeden Fall kommt es auf das Endresultat an – dass das Gelesene auch sitzt…“[11]

Das Urteil des Reichsgerichtes Leipzig gegen Franziska Kessel reihte sich ein in die Spruchpraxis der rechtslastigen Weimarer Justiz; doch die Bedingungen in der Festungshaft Frankfurt-Preungesheim ließen die Integrität der Gefangenen immerhin noch einigermaßen unangetastet. Erfahrungen ihrer ersten Haft glaubte Franziska Kessel auch auf ihre zweite Haft in Mainz während des Hitler-Faschismus übertragen zu können – was sich als Fehleinschätzung erweisen sollte.

 

Die ehemalige kommunistische Reichstagsabgeordnete Franziska Kessel stand bereits am 18.3.1933 auf einer Fahndungsliste des Landeskriminalpolizeiamtes Darmstadt an die „Kreisämter, die staatl. Polizeiämter, die LKP.Stellen und die Pol.Verw. Alzey, Bingen, Butzbach und Gonsenheim“, um „in Schutzhaft“ genommen zu werden.[12] Ihre Widerstandstätigkeit im Untergrund bot dem Überläufer Robert Otto[13] Gelegenheit zum dreifachen Verrat: bei ihrer Verhaftung und ihrem Prozess vor dem OLG Darmstadt, wo er als Belastungszeuge auftrat, schließlich beim Reichstagsbrand-Prozess vor dem Reichsgericht Leipzig, wo er Franziska Kessel abermals belastete. Das ehemalige KPD-Mitglied Max Ruhland aus Bad Nauheim schilderte am 3.12.1945 die Umstände der Verhaftung Franziska Kessels:

„Die Gen. K. war zweimal in Bad Nauheim. […] Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich ihr geraten habe, wieder nach Ffm zurückzufahren, da hier z.Zt. nichts zu machen sei. In Gegenwart des O. konnte ich sie auf die Verrätereien des O. nicht aufmerksam machen. An dem Benehmen des O. merkte ich, dass ihm die Situation peinlich war. Die Gen. Kessel machte noch Einwände, ist aber wie ich mich erinnern kann noch am gleichen Tage zurückgefahren. Ob O. am selben Tage noch verhaftet wurde(,) ist mir nicht mehr erinnerlich. Jedenfalls ist mir bekannt, dass er am Tage,(!) der Verhaftung der Gen. K. in Freiheit war. […] Tatsächlich war O. nur wenige Tage verhaftet, ich kann mich aber nicht mehr erinnern(,) in welcher Zeit das geschehen war.[14] Mit Bestimmtheit aber weiss ich noch, dass eines Abends der Gen. Henn zu mir kam und mir sagte(,) er habe von O. den Auftrag bekommen, die Gen. Kessel vom Bahnhof abzuholen und zum Ludwigsbrunnen zu bringen. Auch hier habe ich die Genossin K. durch den Gen. Henn warnen lassen.

Ich habe dem(!) Gen. H. auch noch ausdrücklich auf die Verräterrolle des O. aufmerksam gemacht. Auch die anderen Genossen waren schon von mir gewarnt worden. Die Gen. K. hat sich aber nicht bewegen lassen zurückzufahren, sondern hat vom Gen. Henn verlangt sie zum Ludwigsbrunnen zu führen. Es war ihr Weg in den Tod.“[15]

Willi Engel, geb. am 12.2.1908, gab am 4.11.1946 in Friedberg zu Protokoll:

„Robert Otto ist mir sehr gut bekannt. Er war kurz vor 1933 Funktionär der KPD, der ich auch angehörte. Ich erhebe gegen Otto den Vorwurf der Denoziation(!). […] Eines Tages, etwa 8-14 nach der Machtübernahme(,) erzählte mit(!) Otto, dass die Franziska Kessel hier sei und ihm Material gebracht habe. Nächsten Mittwoch käme die Franziska Kessel (Reichstagsabgeordnete der KPD) wieder. Er habe sie an den Ludwigsbrunnen bestellt. Als Erkennungszeichen habe er ein Stichwort verabredet, weil er angeblich nicht selbst hingehen könne. Wie ich später erfuhr, hiess das Stichwort ‚Sonnenklar’[16].

Franziska Kessel erschien auch zur verabredeten Zeit am Ludwigsbrunnen. Der damalige Chef der Krim. Pol. Bräutigam war schon am Ludwigsbrunnen anwesend. Er füllte ein Glas Wasser am Brunnen, hob es in die Höhe und sagte: ‚Sonnenklar’. Franziska Kessel gab sich daraufhin zu erkenen und Bräutigam verhaftete sie sofort. Das Stichwort kann Bräutigam nur von Robert Otto erfahren haben.“[17]

 

 

[1] Am 23. April 2009.

[2] Thema und Datum nicht mehr ermittelbar.

[3] Philipp Benz (1912-2011) war KPD-Mitglied und antifaschistischer Widerstandskämpfer. Ende 1933 wurde er für mehrere Monate im KZ Osthofen inhaftiert. Nach 1945 setzte er sich für die Errichtung einer Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Osthofen ein und stellte sich als Zeitzeuge zur Verfügung.

[4] Erika Buchmann (1902-1971) war KPD-Mitglied und verbrachte während der NS-Zeit ab 1935 die meiste Zeit bis zu ihrer Befreiung am 30. April 1945 in Gefängnis- und KZ-Haft. Danach war sie für die KPD als Gemeinderätin und Landtagsabgeordnete in Stuttgart tätig und siedelte nach dem Verbot der Partei 1956 durch das Bundesverfassungsgericht in die ehemalige DDR über.

[5] Haushaltshilfe

[6] AN 1480, Erika Buchmann, Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt am Main

[7] Zitiert nach Daniel Baczyks Artikel im „Darmstädter Echo“ vom 22. April 2009.

[8] AN 1480, Erika Buchmann, Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt am Main.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Ebd.

[12] AN 7146, Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 in Frankfurt am Main.

[13] Robert Otto, geb. am 12.12.1899, hielt sich in Bad Nauheim von 1924-1946 auf und war Mitglied der örtlichen KPD. Vor und nach dem 30. Januar 1933 leistete er Spitzeldienste für die NSDAP. In einem Polizeibericht vom 15. Juni 1933 hieß es über ihn: „Politisch gehörte er seither als Funktionär der KPD an. Er hat aber seinen Irrtum eingesehen und sucht nun seine Verfehlung gegen die nationale Bewegung wieder gut zu machen, indem er Nachrichten über die KPD der Politischen Polizei zur Verfügung stellte.“ In Bad Nauheim blieben die Spitzeldienste Ottos nicht lange verborgen, was ihn schnell verhasst machte, insbesondere natürlich bei seinen ehemaligen Genossen von der KPD, aber auch darüber hinaus. Er erhielt anonyme Drohungen und ging gerichtlich dagegen vor. (Vgl. Signatur Abt. G 28 Bad Nauheim Nr. St 18, Staatsarchiv Darmstadt.) Am 30.4.1945 erging von der Stadtverwaltung Bad Nauheims ein Schreiben an die örtliche Polizei-Direktion mit dem „Betr.: Sofortige Inhaftnahme des Robert Otto Bad Nauheim“ und dem Wortlaut: „Seit langer Zeit, besonders aber seit der amerikanischen Besatzung wirkt es in weiten Kreisen der Bad Nauheimer Bevölkerung anstößig und aufreizend, daß sich Robert Otto, der als Agent in Nazi-Nachrichtendienst berüchtigt bekannt ist, sich heute noch in Freiheit befindet.“ Weiter heißt es, dass Otto während der Nazizeit, aber auch schon vorher Spitzeldienste für die NSDAP geleistet habe. „Nebenbei sei noch bemerkt, daß Otto ein asoziales Element ist, der auch Kriminalstrafen hinter sich hat.“ Unter dem Aktenzeichen AZ:I/Fri/2383/46 wurde nach dem Krieg auch auf die Rolle Ottos bei der Verhaftung Franziska Kessels eingegangen: „Robert Otto war vor 1933 führend in der KPD tätig. Nach der Machtergreifung hat er sich sofort als Spitzel für die NSDAP zur Verfügung gestellt. Verwiesen wird hier auf verschiedene Vorgänge in den Polizei-Akten. Es ist dem Ausschuss auch bekannt geworden, dass er massgeblich an der damaligen Verhaftung der komm. Reichstagsabgeordneten Franziska Kessel beteiligt war. Vorgänge ähnlicher Art dürften durch eingehende Ermittlungen festzustellen sein. Charakterlich geniesst Otto in Bad Nauheim einen schlechten Ruf.“ – Diese Aussagen bedürften nicht der Bestätigung durch Robert Otto selbst, der in einem Meldebogen vom 26. April 1946 niederschrieb, dass er „immer Antifaschist war u. aus diesem Grunde bestraft“ sei. (Alle in dieser Fußnote angeführten Zitate stammen aus: Abt. 520/Gi-Z Nr. 198, Entnazifizierungs- und Spruchkammerakte Robert Otto, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden)

[14] Nach 1945 versuchte sich Robert Otto gegen den Vorwurf des Verrats an Franziska Kessel mit dem Hinweis zu verteidigen, er sei zur fraglichen Zeit verhaftet gewesen.

[15] Abt. 520/Gi-Z Nr. 198, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.

[16] Offensichtlich eine Erinnerungslücke; das Erkennungswort lautete „Frühlingssaat“.

[17] Abt. 520/Gi-Z Nr. 198, Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden.

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