Große und kleine Geschichten


Große und kleine Geschichten

Teil II

 

Die Moderne beginnt immer. Der Flugpionier August Euler (1868–1957) erhielt am ersten Februar 1910 den ersten Pilotenschein … Angeblich hat der russische Maler Wassily Kandinsky (1866–1944) 1910 in München das erste abstrakte Bild gemalt. Vielleicht war es aber auch erst 1913, und er hat sich die Freiheit zur Vordatierung genommen. Die Malerin Hilma af Klint (1862–1944) war Kandinsky mit der abstrakten Technik im Jahr 1906 wohl vorausgewesen – für unsere Zwecke sei dies dahingestellt. Abstrakt zu malen heißt, das Ding an sich auf die Leinwand zu bringen. Körperwelt versus höhere innere Wahrheit … War die Figürlichkeit auf dem Weg, nur noch als Stilübung zu gelten, im Übrigen aber als veraltet und ästhetisch zweitrangig? … Dass Papst Pius X. (1903–1914) am achten September 1910 den Antimodernismuseid von seiner geistlichen und weltlichen Gefolgschaft verlangte, zeigt das Bewusstsein des damaligen Pontifex Maximus für eine Zeitenwende auf, die er als bedrohlich empfand.

Nachgetragene Gespräche. Über den Bedeutungsverlust der beiden Kirchen, der katholischen und der evangelischen. Heute ein Artikel in der Zeitung. „Leere an Weihnachten – verdiente Quittung für die Alte-Männer-Kirche“ (FR online, 25.12.2022). Das Wort Rassismus grassiert derzeit. Sind alte Männer vom Rassismus- und Diskriminierungsverbot ausgenommen; am besten noch als „alte weiße Männer“? Was mich betrifft, bin ich von alten weißen Männern am stärksten geprägt worden: von meinem Mentor, einigen meiner Professoren an der Uni, vom Mainzer Schriftsteller Jürgen Kross (1936–2010). Eine meiner Zeichnungen stellt drei dieser alten weißen Männer dar (Jürgen Kross, meinen Mentor und Professor Richard Wisser [1927–2019]), versehen mit dem Wort Stefan Georges: „Kehrt wieder kluge und gewandte Väter“ („Der siebente Ring“, „EINEM PATER“, 191).

In einem Heimatfilm der fünfziger oder frühen sechziger Jahre wird eine Prügelszene zwischen rivalisierenden Gruppen von Männern unter freiem Himmel gezeigt. Da ertönt das Glöckchen des Messdieners, der Pfarrer im Priestergewand, begleitet von zwei Messdienern, eilt vorbei, vielleicht zu einem oder einer Sterbenden. Die prügelnden Männer lassen sofort ab von ihrem gewaltsamen Tun, nehmen vereinzelt ihre Kopfbedeckung hinunter, bekreuzigen sich und senken andächtig die Köpfe. Der Pfarrer mit den beiden Messdienern ist verschwunden. Die Männer heben wieder die Fäuste. – Wenn die beiden Kirchen, die katholische und die evangelische, erodieren, suchen sich die Menschen Ersatzreligionen. Die gibt es schon, am deutlichsten erkennbar auf der gesellschaftlich-politischen Ebene, etwa die Klimabewegung. Bleiben die beiden Kirchen aktuell, wenn sie sich aktuellen Strömungen anschließen? Das bezweifle ich.

Es war noch zu Lebzeiten meines Mentors, aber nach meiner Internatszeit, dass ich die Sinfonien Gustav Mahlers auf dem Schallplattenspieler rauf und runter hörte (mit Ausnahme der achten, die nicht an mich ging). Ich schrieb meinem Mentor davon. Er war der klassischen Musik schon in Jugendjahren überdrüssig gemacht worden und bevorzugte seitdem Rock- und Popmusik, auch Chansons, vor allem französische. Brieflich beschrieb er mir sein Morgenritual als Pensionär. Er tue dies und das und höre Musik, „die nicht die von Mahler ist.“ Erst jetzt wird mir deutlich, dass mein Mentor ein frühkindlicher Zeitgenosse Gustav Mahlers war. Die „Sinfonie der Tausend“ wurde am 12. September 1910 in der Neuen Musikfesthalle in München uraufgeführt, da zählte mein Mentor nicht ganz dreieinhalb Jahre. Der Umstand hätte ihn kaum interessiert. Dass sich Thomas Mann im Münchner Publikum befand, schon etwas mehr. Worauf ich hinauswill: Was bedeutet es, neben dem Faktischen, noch Zeitgenosse einer herausragenden Persönlichkeit gewesen zu sein? (In meinem Fall etwa Hermann Hesses, der starb, als ich drei Jahre alt war.) Bedeutet es genauso viel oder wenig, als überhaupt die Zeitgenossenschaft mit hervorragenden Persönlichkeiten ausmacht? Wichtig ist die Anverwandlung. Die muss ich selbst leisten. Ihre Art und Weise macht die Bedeutsamkeit meiner Zeitgenossenschaft mit einer vortrefflichen Persönlichkeit aus.

Die Fragen türmen sich. War zur Zeit meines Mentors, als er im vierten Lebensjahr stand (1910/11), mehr los als im Vergleichszeitraum bei mir (1962/63)? Was heißt das, es war etwas los zu jener Zeit? Es muss etwas sein, woran man sich erinnert, was in den Chroniken, vielleicht sogar in den Geschichtsbüchern steht. Wenn etwas los war, was in den Chroniken, vielleicht sogar in den Geschichtsbüchern steht, muss es nichts Positives gewesen sein. Im Jahr 1962 – als Beispiel – ereignete sich nicht nur die Kubakrise, sondern auch die Zündung einer Atombombe über dem Pazifik durch das US-amerikanische Militär am 25. April, oder die Erschießung des 18-jährigen Bauarbeiters Peter Fechter aus Ost-Berlin an der Mauer. War der Zeitraum des vierten Lebensjahres meines Mentors in positiver Hinsicht ereignisreicher als mein Vergleichszeitraum? Lässt sich die Uraufführung von Mahlers Achter Sinfonie vergleichen mit der Uraufführung von Hochhuths „Stellvertreter“ am 20. April 1963 in Berlin? Mein Mentor sprach einmal während einer seiner Abendaufsichten im Internat von Hochhuths bekanntestem Stück. Er kritisierte Hochhuths Arbeit als ungerecht gegenüber Papst Pius XII. Nach Öffnung der vatikanischen Archive im Jahr 2020 – 35 Jahre nach dem Tod meines Mentors – ist klargeworden, dass die kritischen Worte meines Mentors in jener Abendaufsicht im Internat um die Mitte der siebziger Jahre nicht unbegründet waren.

 

Fortsetzung folgt