Thomas Berger
HÖRST DU VON FERN DIE KRÄHEN LAUTHALS SCHREIN?
Über Rüdiger Jungs Dialog „Wenn der Wind ruft“
Im Mai des Jahres 1890 schuf der niederländische Maler Vincent van Gogh (1853−1890) die einzige Radierung in seinem Gesamtwerk: Bildnis Doktor Gachet mit Pfeife, 18 x 15 cm. Kurz danach, im Juni, wenige Wochen, bevor sich van Gogh in die Brust schoss, entstanden die beiden Porträts Bildnis Doktor Gachet, 67 x 56 cm, und Bildnis Doktor Gachet mit Fingerhutzweig, 68 x 57 cm, beide Öl auf Leinwand.
Der französische Arzt Paul-Ferdinand Gachet (1828−1909) behandelte den Patienten van Gogh in der Gemeinde Auvers-sur-Oise bei Paris. Der Mediziner interessierte sich sehr für Kunst und besaß selbst ein Atelier in diesem Ort, wo sich das Grab Vincent van Goghs und das seines Bruders, des Kunsthändlers Theo van Gogh (1857−1891), befinden.
Der Theologe und Schriftsteller Rüdiger Jung lädt seine Leser zu einem fiktiven Dialog (28. März / 8. April 1987). Es treten auf: Vincent van Gogh und Dr. Gachet. Das Gespräch besitzt einen Rahmen – die Frage des Patienten: „Wissen Sie, wie es ist, wenn der Wind ruft?“ Keine leicht zu beantwortende Frage, zweifellos. Und so wundert es nicht, dass der Arzt, obgleich er 1858 über Melancholie promoviert hatte (Étude sur la Mélancolie) und folglich von ihm Einfühlungsvermögen zu erwarten war, sowohl am Beginn als auch gegen Ende der Unterredung unumwunden erklärt: „Nein, Vincent.“
Rüdiger Jung lenkt mit der zweimaligen Frage und der jeweils gleichlautenden Antwort unseren Blick darauf, dass es sich, im Grunde genommen, nur rein äußerlich um einen Dialog handelt. In Wirklichkeit trennen die Gesprächspartner Welten. Gachet erhebt eine ganze Reihe von Einwänden gegen die Äußerungen der Verzweiflung seines Gegenübers: „Ihr Bruder braucht Sie […] Ihre Bilder sind schön […] Sie martern sich selbst […] Aber Askese ist doch … […] Sie haben Herrliches geschaffen […] Haben Sie je daran gedacht, wie sehr man Sie beneidet? […] Dem Wind nachzulaufen ist vergeblich […].“
Vincent van Gogh weist geradezu schroff sämtliche Bemerkungen zurück. Er sieht sich auf gänzlich verlorenem Posten. Seine Entgegnungen sind verstörend und zeigen zugleich das tief in seiner Existenz verankerte Kunstbewusstsein: Seine Schöpfungen seien „nichts als flackernde, flammende Lüge“, seien „häßlich, weil sie zu schön sind und gleichzeitig nicht schön genug“; stets sei er „dem Wind nachgelaufen, in der Hoffnung, ihn einmal zu fangen“; höre er, der zutiefst Unverstandene und Einsame, das Rufen des Windes, sei er „wie eine jener Krähen, die mein Gewehr aufgeschreckt hat. Die Schüsse aber hören nicht auf. Und meine mattschwarzen, pechschwarzen Flügel finden keinen Frieden.“
Ich fühle mich angesichts der Qual, die Rüdiger Jungs van Gogh erleidet, an ein Gedicht erinnert, das ich 2017 schrieb:
MONOPHAG
Hörst du von fern
die Krähen
lauthals schrein
über klirrend
blutig Eis
Sie klagen weh
ob deines Hungers
der zehrt von mir
doch ungestillt
Ich spüre frostkalt
deinen heißen Atem
stoß mich
im Liebeskerker wund
Hörst du von fern
die Krähen
lauthals schrein
über klirrend
blutig Eis
Der eindrucksvolle und empathische „Dialog“ Rüdiger Jungs endet mit van Goghs Bekenntnis: „einmal sein wie ein Baum. Die Äste gen Himmel strecken und Wurzeln schlagen, wo kein Wind mich trifft. Und bin doch nur eine Krähe. Mein Leben ein Nest aus Stückwerk, ein Nest für kurze Frist …“
Einmal sein wie ein Baum – die Lyrikerin Hilde Domin (1909−2006) veröffentlichte 1959 das folgende Gedicht, das mir in den Sinn kam, als ich, innerlich berührt, die Worte las, die Rüdiger Jung seinem van Gogh in den Mund legt:
ZIEHENDE LANDSCHAFT
Man muß weggehen können
und doch sein wie ein Baum:
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.
Man muß den Atem anhalten,
bis der Wind nachläßt
und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
und wir zuhause sind,
wo es auch sei,
und niedersitzen können und uns anlehnen,
als sei es an das Grab
unserer Mutter. (1)
Es war dem Künstler Vincent van Gogh, im Text Rüdiger Jungs und im richtigen Leben, nicht vergönnt, wie ein Baum starke Wurzeln auszubilden, „zuhause“ zu sein. Verlässliche Heimat war ihm, von den Zeitgenossen nicht erkannt und infolgedessen nicht gewürdigt, einzig die existentielle Sehnsucht, dem Anruf wahrer Kunst zu folgen.
ANMERKUNG:
(1) Hilde Domin, Nur eine Rose als Stütze, Frankfurt am Main 1959, Seite 9