Karl Kunkel


Johannes Chwalek

Beitrag über Karl Kunkel (1913–2012), Geistlicher Rat und NS-Verfolgter 

Erstveröffentlichung im Biographisch-bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL), 2024

 

KUNKEL, Karl, * 8.11. 1913 in Seeburg / Ostpreußen (poln. Jeziorany), † 30.1. 2012 in Bensheim. K., Sohn einer Gastwirtsfamilie, studierte in Tübingen und München Theologie. Die Priesterweihe erhielt er am 6.3. 1938 im Dom zu Frauenburg durch den Bischof von Ermland, Maximilian Kaller (1880–1947) (BBKL III, Sp. 974–978). Als Kaplan war er tätig in Allenstein und Königsberg. Eine schwere Aufgabe hatte er in Königsberg als Standortpfarrer im Nebenamt zu versehen, nämlich verwundete und inhaftierte Soldaten zu betreuen und dabei Todeskandidaten zur Hinrichtung zu begleiten. Seine Predigten machten ihn der Gestapo verdächtig. So zog er eine Verbindung zwischen der Hitlerbewegung und dem Atheismus. Verwarnungen der Gestapo waren die Folge. Am 15.7. 1944 wurde K. in Königsberg verhaftet; ein ehemaliger Studienkollege hatte ihn als »Mann mit Kontakten ins Ausland« denunziert. Er sollte nach Berlingebracht und vor den Volksgerichtshof gestellt werden. Auf dem Weg dorthin hatte er noch zwei Nächte im Neuen Gefängnis in der Berneckerstraße in Königsberg zu verbringen. »Sonst bin ich zum geistlichen Beistand für die letzte Stunde dorthin gerufen worden, jetzt werde ich selber als Häftling eingeliefert. Das Personal ist überrascht.« (Ermlandbuch 1983, S, 42) Am 18.7. 1944 schloss sich die Zellentür im KZ Ravensbrück hinter K. Bis zum 30.4. 1945 sollte er unter Bewachung der SS bleiben. Er hat über seine KZ-Haft – erst in Ravensbrück, dann im Lager Dachau – im Geheimen ein Tagebuch geführt und später nach seinen Erinnerungen vervollständigt, es ist im »Ermlandbuch 1983« veröffentlicht worden, herausgegeben von der Bischof-Maximilian-Kaller-Stiftung. Brutalen Verhören wurde er unterzogen, so auch am Abend des 22.7. 1944. »Mein Auge ist blutunterlaufen, die Wangen grüngelb gefärbt, das Trommelfell scheinbar geplatzt. Beschämt verstecke ich mich etwas vor den anderen Leidensgenossen«, notierte er über den Morgenspaziergang am Folgetag. (Ermlandbuch 1983, S, 47) Trotz Misshandlungen gelang es der SS nicht, K. ein in ihren Augen verbrecherisches Verhalten nachzuweisen, sie behielt ihn jedoch als Sonderhäftling in Gewahrsam. Dieser Status blieb K. auch zugedacht, als er am 23.2. 1945 vor der näher rückenden Front ins Lager Dachau verlegt wurde. Die SS wollte ihn und weitere prominente Sonderhäftlinge wie den französischen Bischof von Clermont-Ferrand, Gabriel Emmanuel Joseph Piquet (1887–1952), den Münchner Domkapitular Johannes Neuhäusler (1888–1973) oder den evangelischen Regimegegner Martin Niemöller (1892–1984) (BBKL VI, Sp. 735–748) als Faustpfand bei etwaigen Verhandlungen mit den Alliierten missbrauchen. Wenn den Sonderhäftlingen auch die menschenvernichtende Arbeit und Mangelernährung der übrigen Dachauer KZ-Häftlinge erspart blieb, lebten sie gleichwohl in dauernder Ungewissheit und Todesangst über ihr Schicksal. Vor den anrückenden US-Amerikanern trieb die SS 138 Sonderhäftlinge – unter ihnen K. – am Abend des 24.3. 1945 nach Südtirol. Die Häftlinge sollten entweder freigelassen oder erschossen werden, je nachdem wie die Verhandlungsergebnisse ausfielen. Am Ende wurden die Gefangenen jedoch von der Wehrmacht in Obhut genommen, die SS blickte zwar noch »böse drein« (Ermlandbuch 1983, S, 75), zog es aber vor, auf bereitgestellten Lastkraftwagen mit den letzten deutschen Truppen über den Brenner zu entkommen. »Da können wir erst aufatmen. Endlich sind sie weg, in unserem Rücken steht nicht mehr die Bedrohung der geladenen Waffen.« (Ermlandbuch 1983, ebd.) Das Tagebuch enthält in den letzten Eintragungen K.s Überlegungen zum Sinn seiner und seiner Mitgefangenen Leiden, die er als »Gottes Heimsuchung« deutete. Eine möglichst vollkommene Hinwendung zu Gott machte er als Konsequenz der vergangenen traumatischen Erfahrungen aus, was »im wirren Trubel des Lebens« und im »Einerlei des Alltags« nicht »eingeebnet« werden dürfte (vgl. Ermlandbuch 1983, S. 79). Eine Privataudienz bei Papst Pius XII (1876–1958) (BBKL VII, Sp. 682–699), der K. nach der KZ-Haft befragt und ihm einen Rosenkranz sowie eine Münze schenkte, folgte am 23.5. 1945. K. war entschlossen, möglichst rasch ein geistliches Amt zu übernehmen. Er fand es im Juli 1945 als Spiritual für Dominikanerinnen im Kloster Schlehdorf in Oberbayern. Seit 1950 wirkte er im Bistum Mainz und übernahm das erste Rektorat im Katholischen Schülerheim St. Bonifatius im ehemaligen Bischöflichen Konvikt zu Bensheim; nach einer Übergangsfrist wurde das Haus wieder umbenannt in Bischöfliches Konvikt, wie es von seiner Gründung 1888 bis zur erzwungenen Schließung durch die Nationalsozialisten 1939 geheißen hatte. Das Wohninternat bot ungefähr einhundert heimatvertriebenen begabten Jungen von der Sexta bis zur Oberprima, unter ihnen solche, die durch den vergangenen Krieg zu Halb- oder Vollwaisen geworden waren, aber auch »einheimischen Westzonenschülern« die Möglichkeit zu gymnasialer Ausbildung in nahegelegenen Schulen. Das Archiv der Stadt Bensheim bewahrt fünfundzwanzig Elternbriefe K.s auf, die er während der beinahe sechs Jahre seines Rektorates verfasst hat. Er berichtete von Regularien des Lebens im Konvikt, von sportlichen und kulturellen Veranstaltungen und natürlich von der Begehung religiöser Feste im Jahreskreis sowie religiösen Unterweisungen für die Zöglinge. Bei knappsten Geldmitteln wurde über die gesamten Jahre seines Rektorates ein erstaunliches kulturelles Angebot unterbreitet und genutzt; Theaterbesuche in Bensheim, Darmstadt oder Heidelberg, Filme in »Lichtspielhäusern«, Konzertbesuche, Vorträge auswärts und im Konvikt »mit Lichtbildern« sowie Dichterlesungen. Im Dezember 1955 verfasste er seinen letzten Elternbrief, der seine Beanspruchung im Rektorat erkennen lässt: »Nun zum Schluß möchte ich mich von Ihnen, liebe Eltern, verabschieden. Nicht bloß für diesen Brief und dieses Jahr 1955, sondern für immer. Vom 1. Januar 1956 ab bin ich zum Pfarrer der Gemeinde >Maria-Hilf< in Mainz-Kostheim ernannt worden. Ich freue mich sehr, daß ich wieder in die Seelsorge komme. Ich habe mich selber von Bensheim weggemeldet. Sie werden es verstehen, daß die beinahe sechs Jahre, die ich im Konvikt als Rektor war, doppelt zählen. Sie wissen, was es heißt, für zwei oder drei Jungen zu sorgen. Dann können Sie auch das Maß an Arbeit und Verantwortung ermessen, das einem auferlegt ist, der für Seele und Leib von 100 Jungen zu sorgen hat. Das geht schon sehr an die Kraft der Nerven und des Herzens.« Bis zum Jahr seiner Pensionierung, 1979, versah K. das Amt des Gemeindepfarrers in Mainz-Kostheim. Bauarbeiten an der Kirche bezüglich der Außen- und Innengestaltung sowie der Bau und Erstbezug des Pfarrhauses Maria-Hilf prägten diese Zeit. 1979 wurde K. zum Geistlichen Rat ernannt. Er zog wieder nach Bensheim, dort war 1972 sein ehemaliger Konviktsschüler und späterer Bensheimer Ehrenbürger Georg Stolle (1938– 2020) zum Bürgermeister gewählt worden; ein Amt, das Stolle bis 2002 behielt. K. ließ sich als Zeitzeuge der NS-Verfolgung in Anspruch nehmen und nahm Einladungen in Schulen wahr. Im Jahr 2003 besuchte er das ehemalige Lagergefängnis der KZ-Gedenkstätte Dachau. Die Süddeutsche Zeitung berichtete: »Als Kunkel 58 Jahre nach der Befreiung erneut das ehemalige Lagergefängnis betrat, das die Häftlinge den >Bunker< nannten, empfand er Dankbarkeit, >tiefe Dankbarkeit, dass Gott mir erlaubt hat, hier lebend raus zu kommen.<« (SZ, 23.10. 2020) Sein Portrait war im Oktober d. J. auf Plakaten in der ganzen Stadt zu sehen im Rahmen einer Aktion des Fördervereins für Internationale Jugendbewegung und Gedenkstättenarbeit zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ; jeden Monat wurde ein Portrait eines ehemaligen Häftlings in Dachau plakatiert. Bis ins hohe Alter hinein blieb K. in Bensheim seelsorgerisch aktiv, las heilige Messen und nahm die Beichte ab. Nach seinem Tod am 30.1. 2012 wurde am 3.2. 2012 das Requiem für den Verstorbenen in der Pfarrkirche St. Georg in Bensheim gehalten. Aus Mainz reiste Generalvikar Prälat Dietmar Giebelmann (Jg. 1946) an. Seine letzte Ruhe fand K. im Priestergrab auf dem Friedhof Bensheim-Mitte.