Kollektives Schicksal und Einzelschicksal am Beispiel Corona


Kollektives Schicksal und Einzelschicksal am Beispiel Corona

 

Da sieht man es wieder, welche Parallelen es geben kann. In Zeiten von Corona gehen kollektives Schicksal und das Schicksal des einzelnen konform. Durch die Kanäle von Fernsehen und Internet werden alle Menschen von denselben Nachrichten erreicht. Eine kollektive Erleichterung wurde spürbar, als vom Wahlsieg über Trump und fast gleichzeitig von einem möglichen Corona-Impfstoff die Rede war.

Nicht nur du oder ich empfinden in solchen Augenblicken Freude, du kannst in fast jedes Haus schauen und bei seinen Bewohnern die gleichen Gefühle wahrnehmen.

 

Gibt es überhaupt noch so etwas wie ein individuelles Schicksal?

Ich bemerke es, wenn ich von Kriegshandlungen oder Katastrophenfällen höre oder lese, und wenn ich entsprechende Bilder sehe. Dann sitze ich zwar beunruhigt, aber immer noch verschont, in meinem Haus, auf das gerade keine Bombe gefallen ist. Vielleicht stoße ich ein Dankgebet aus oder atme wenigstens tief durch. Für den Moment bin ich von den Getroffenen weit entfernt.

Es kann auch umgekehrt sein.

Ich bin hier gerade die Einzige, die einen schweren Verlust erleidet. Soeben ist mein Mann in meinen Armen gestorben. Oder mein Kind ist mit seinem ersten Auto tödlich verunglückt.

Für die anderen geht das Leben normal weiter.

Ich erlebe einen individuellen Schicksalsschlag.

In diesem Fall ist die Bombe nur in meinem Haus explodiert.

 

Durch Corona kommen kollektives und individuelles Schicksal einander näher. Im Alltäglichen sind fast alle gleich betroffen: nicht ausgehen, keinen Sport treiben, keine Kulturveranstaltungen organisieren oder besuchen. Viele sind von Einsamkeit betroffen, weil sie niemanden haben, mit dem sie keinen Mindestabstand einhalten müssen. Andere haben Angst, sich anzustecken, weil sie mit einem schweren Krankheitsverlauf rechnen müssen. Wieder andere sind einfach vorsichtig, gemeinsam mit vielen weiteren anderen, die ebenfalls vorsichtig sind. Es gibt auch diejenigen, die das verweigern, aber auch sie beziehen Stellung in dieser globalen Diskussion.

 

Der Erdball dreht sich immer schneller, zugleich wird die Zeit angehalten, denn alle sind in Corona-Starre.

Da sind wieder die Einzelschicksale, denen Rechnung getragen wird: Die Angehörigen, die nicht ans Intensivbett des Beatmeten dürfen.

Und dann sind da wieder die vielen vor den Fernsehern, die sich vorstellen, wie sie nicht an das Intensivbett ihres beatmeten Angehörigen dürfen. Und die dann mal so tun, als würden sie das Einzelschicksal teilen.

 

Wir Deutschen, wir hatten viele Jahre lang ein mildes kollektives Schicksal. Flächenbrände waren anderswo. Doch durch Corona kam die Bedrohung näher, mit konkreten Requisiten wie Mund-Nasen-Masken und Desinfektionsmitteln. Jeder kennt mindestens einen, der erkrankt ist. Mancher hat schon einen Menschen verloren. Zumindest kennt jeder Langeweile, Verlangsamung und Isolation.

Wenn kollektives Schicksal und Einzelschicksal sich einander annähern, dann öffnet dies vielleicht auch Türen.

 

November 2020, Susanne Konrad