Natur


Vortrag über das Werk Thomas Bergers

Kelkheim, Stadtbibliothek, 23. Februar 2024, 17:30–19:00 Uhr,

  1. Teil: Natur

 

Sehr geehrter Herr Winter, sehr geehrte Gäste der Stadtbibliothek Kelkheim, vor allem verehrter Thomas Berger,

 

als ich nach einem Ansatz für meinen Vortrag über das Werk Thomas Bergers suchte, fiel mir ein Wort des Rezensenten der Werkgeschichte, Rüdiger Jung, ein, der meinte, der Autor Johannes Chwalek sei dem Schrifttum Thomas Bergers „auf Augenhöhe“ begegnet. Diese Aussage möchte ich im Folgenden bestreiten. Nicht in der Rolle des Gleichrangigen bin ich den Spuren des umfangreichen Werkes gefolgt, sondern in der Rolle des Überraschten, Entdeckenden und Lernenden. Drei Begriffe seien angeführt, um den Sachverhalt darzulegen: Natur, Literatur und Theologie. Beginnen möchte ich mit dem Stichwort „Natur“. Durch Thomas Bergers Lyrik habe ich mich im förderlichen Sinn belehren lassen müssen über die Dürftigkeit meiner Kenntnisse und die Oberflächlichkeit meines Blickes hinsichtlich der Welt außerhalb meiner Wohnung, der Häuser und des Betons. „Kastanienfrüchte“ sind mir noch bekannt, aber schon ein „Blatthornkäfer“ ist mir nicht mehr recht geläufig, ebenso wenig wie „Röhrenpilze“ oder „Adlerfarne“, „Sternmoos“ und so weiter. Ich habe recherchiert und dabei gelernt, dass „Blatthornkäfer“ ein Wort ist für eine „Familie in der Ordnung der Käfer […] mit etwa 27.000 Arten in 1600 Gattungen“. Weltweit sei die Gruppe verbreitet, bilde „mehrere gut abgegrenzte Unterfamilien und eine Reihe von solchen, deren verwandtschaftliche Stellung noch unklar“ sei. Was die „Röhrenpilze“ betrifft, so gehören sie zur „Gattung der Ständerpilze […], welche mit gestielten Hüten senkrecht aus der Erde sprießen“. Bei den „Adlerfarnen“ ist mir klar gewesen, dass es sich um eine Pflanzenart handelt, aber dass die Pflanze weltweit verbreitet und giftig ist, wusste ich nicht; merkwürdig erscheint es mir, dass sie gleichwohl in einigen Regionen der Welt als Wildgemüse genutzt wird. Solche Entdeckungen und Horizonterweiterungen auf der Ebene naturwissenschaftlichen Fakten- und Registerwissens lassen sich in den Gedichten Thomas Bergers immer wieder machen. Der Heger und Pfleger eines Naturalienkabinetts in der Kelkheimer Wohnung ist bewandert in Flora und Fauna der heimischen und entfernter liegenden Natur. Doch beim Erwandern, Beobachten von Einzelerscheinungen und Sammeln für das Kabinett bleibt der Naturkundler Thomas Berger nicht stehen; er zeichnet in seinen Gedichten das Bild einer Natur jenseits des ersten Augenscheins, über dem bloßen Faktenwissen und erst recht einer rein funktionalen Betrachtung, die uns sonst überall begegnet. Hier wird es nun schon richtig spannend. Denn worin besteht „das Bild einer Natur jenseits des ersten Augenscheins“ und „einer rein funktionalen Betrachtung“? Welcher Zugang öffnet sich? Was vermag er zu geben oder besser: zu schenken? Im Gedicht „Jännertag“ aus dem Band „Inseln im Zeitstrom“ aus dem Jahr 2011, S. 12, heißt es:

 

„Ich setze

achtsam

meinen Fuß

auf schneebedeckten Pfad.

 

Ein segensreiches Jahr

ruht

friedlich

unter Letheweiß.“

 

Das Reich der Natur „achtsam“ zu betreten, drückt Respekt aus, der zur Vorsicht mahnt und jedes polternde, besitzergreifende, kolonialistische Gehabe ausschließt. Vielleicht ist der schneebedeckte Pfad auch noch ohne Fußspuren von Menschen oder auch Trittspuren von Tieren. Denn die Natur hat ein Eigenwesen, so groß und unermesslich, dass die naturwissenschaftliche Betrachtungsweise, die Einzelobjekte und -phänomene unter das Mikroskop legt, sich dafür als nicht zuständig erachtet. Die poetische Betrachtungsweise ist hingegen durchaus bereit, sich dem Gesamteindruck einer Naturlandschaft zu stellen. Und das bedeutet zunächst: ihn auf sich wirken zu lassen; diese Wirkung erst einmal nur zu beschreiben und sich mit Erklärungen und Wertungen zurückzuhalten. Doch es folgt die zweite Strophe, die gerade dies tut: zu werten – „Ein segensreiches Jahr“ – und überdies einen Widerspruch zu bergen scheint: dass das segensreiche Jahr „friedlich / unter Letheweiß“ liege, also dem Vergessen anheimfalle. Segensreich ist das Jahr, weil es als solches erinnert wird, also einem besonderen Aufmerken unterliegt – und dann soll es in die Vergessenheit sinken? Ja, denn die Natur ist gewaltiger, als kleines menschliches Erinnern, das noch so berechtigt erscheint im individuellen Rahmen; es wird vom diesjährigen Letheweiß, dem nächstjährigen und allen künftigen bedeckt werden, bis es aus jeglicher Erinnerung verschwunden ist. In einem durchaus höheren, übergeordneten Sinn löst sich der scheinbare Widerspruch auf, dass das als segensreich erinnerte alte Jahr unter „Letheweiß“ liege. Und man betrachte die Wortkombination, den Bergerschen Neologismus: Letheweiß! Das kleine Gedicht hat es – wie man sagt – in sich.

Staunendes Gewahrwerden der Größe der Natur, welche die Begrenztheit landläufigen Empfindens überschreitet, zeigt sich auch im Gedicht „In Wanderschuhen“ (ebd., S. 16). Das lyrische Ich nimmt zunächst nur Einsamkeit, fehlenden Sonnenstrahl, kalten Wind und welkes Laub zur Kenntnis, gelangt dann jedoch zur Einsicht, wie „reich“ und „wundersam“ „der Wald / im herbstlich Regengrau“ sich gibt, denn „Kastanienfrüchte / Röhrenpilze / Adlerfarne / Sternmoospolster“ sind zu entdecken. Die Fülle des Staunenswerten steht über dem durchschnittlichen Wunsch nach milder Witterung, Sonnenstrahlen und so weiter. Das lyrische Ich hat sich hoch- und eingeschwungen in den großen Atem der Natur.

In dieser Hinsicht korrespondieren die Gedichte auch miteinander. Sie sind zudem in den verschiedenen Gedichtbänden des Autors stimmig angeordnet. Nach „In Wanderschuhen findet sich auf der folgenden Seite des erwähnten Gedichtbandes „Inseln im Zeitstrom“ das Gedicht „Umbruch“ (S. 17). Es beschreibt die dauernde Bewegung und damit die unaufhörliche Wandlung in der Natur am Beispiel von Reben, die sich wandeln in Wein; von Kranichen, welche die Reise wagen und von Blättern, die in den Abschied willigen. Die Conclusio lautet: „Auch an mich / ergeht / der Ruf“. Selbstredend ist das lyrische Ich nicht ausgenommen von der allgegenwärtigen Bewegung alles Kreatürlichen. Der Kreislauf des Lebens, am sinnfälligsten in der organischen Natur zu beobachten, vergisst niemand. Für den Menschen jedoch stellt sich die Frage, wie er sich verhalten soll angesichts des „Rufs“, der an ihn ergeht gleich allem Lebendigen.

Solche Untersuchungen, wie ich sie in wenigen Worten am Beispiel von Thomas Bergers Naturgedichten angedeutet habe, lassen sich auch in anderen Themenfeldern seiner Lyrik anstellen, etwa bei der „Minne“, philosophischen Reflexionen, poetologischen Gedanken oder den Stichwörtern Askese und Religion. Die Lyrik stellt eines der zentralen Arbeitsgebiete Thomas Bergers dar. Viele Gedichtbände und zahlreiche Anthologiebeiträge zeugen davon. Doch ich will zum zweiten Begriff übergehen, dem der Literatur.

(Fortsetzung folgt)