Raufgehen und runtergucken


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Raufgehen und runtergucken

Ganz am Anfang lebte der Mensch wahrscheinlich im Tal. Hier sammelte sich das Wasser, das er für sein Überleben so dringend benötigte. Und weil es hier Wasser gab, wuchsen im Tal Pflanzen. Einige davon konnte man essen. Einige boten Schutz vor Sonne oder Regen. Aus anderen konnte man sich so etwas wie ein Versteck und später sogar eine Behausung bauen. Und wieder andere konnte man verbrennen. Und am Wasser fanden sich regelmäßig Tiere ein, von denen man einige jagen, erlegen und aufessen konnte, roh oder gebraten.
Paradiesische Zustände also beinahe.

Geht man davon aus, dass die Wiege der Menschheit in Ostafrika stand, so wird es wohl einer der dort befindlichen Berge gewesen sein, der Kilimanjaro möglicherweise oder der Mount Kenia, der in einem unserer Vorfahren die Neugier aufkommen ließ, wie die Welt denn von dort oben aussähe. Oder vielleicht hatte er auch einfach nur Streit mit seiner Frau, seiner Schwiegermutter, dem Chef oder mit wem auch immer, und plötzlich kam ihm als erstem Menschen der Weltgeschichte der Gedanke: Ich glaube, ich muss mal ein bisschen Abstand zu all dem hier gewinnen. Dieser Berg da hinten, das ist bestimmt der richtige Ort, um eine ganz neue Sicht auf meine Probleme zu bekommen.

Er ist losgelaufen. Und wahrscheinlich ist er, wenn er nicht unterwegs von wilden Tieren aufgegessen worden ist, da oben einfach erfroren.
Die Zurückgebliebenen haben aber vielleicht seine Nicht-Rückkehr falsch interpretiert: Der kommt gar nicht wieder, dem scheint es ja prächtig zu gehen! Also sind ihm die nächsten gefolgt – und wahrscheinlich ebenso erfroren. Was das Gerücht nur verstärkte, dass es auf diesem Berg offenbar ganz famos sein müsse.
Bis dann eines Tages der Chef selbst meinte, nun höchstpersönlich nachsehen zu müssen, was denn dort so großartig sei, dass seine tapfersten Jäger das Leben in diesem Tal einfach so aufgegeben hatten. Also zog er mit einigen Leuten Gefolge los, aber als Chef war er natürlich ordentlich in das königliche Löwenfell eingemummelt und trug die königliche Antilopenfellmütze, ohne die ihn seine Mama nie aus dem Haus gehen ließ. Und deshalb erfror er auch als Einziger nicht und konnte nach seiner Rückkehr seinen staunenden Untertanen berichten, dass es dort oben zwar bitter kalt sei, auf der anderen Seite des Berges aber ein weiteres Tal liege, grün, fruchtbar und offenbar unberührt, das nur darauf warte, besiedelt zu werden.

Damit löste er die erste Völkerwanderung aus. Denn nachdem jenes Tal besiedelt war, bemerkte man dahinter wieder einen neuen Berg und dahinter ein neues Tal und immer so weiter, bis schließlich alle Berge überwunden und alle Täler besiedelt waren.
Ich persönlich habe meine Zweifel daran, dass die Überquerung der Alpen, ihre allererste Überquerung, wirklich so eine tolle Idee war. Von mir aus hätte die Menschheit ruhig um das Mittelmeer herum bleiben können und der Raum nördlich der Alpen wäre heute ein wundervolles naturbelassenes Reservat für Wisente, Wölfe und Bären, in das schneebegeisterte Menschen – es gibt ja so merkwürdige Vorlieben – ab und an in den Abenteuerurlaub fahren könnten. Geführt von einem erfahrenen Reiseleiter natürlich.

Es muss diesem evolutionsgeschichtlichen Hintergrund geschuldet sein: Schon kleine Kindern müssen unbedingt auf alles hinaufklettern, das nicht schnell genug wegrennt, weswegen Bäume dafür besonders geeignet erscheinen. Sobald der Mensch etwas sieht, das höher ist als er selbst – da muss er hinauf. Sei es ein besonders hohes Haus, ein Turm oder eben ein Berg. Im Alltag hat der Mensch wenig Möglichkeiten dazu, es gibt wohl kaum einen Chef (der nicht umsonst immer in den obersten Etagen sitzt), der verständnisvoll auf den Anruf eines Mitarbeiters reagiert, der ihm sagt: Chef, ich kann heute nicht auf Arbeit kommen, ich muss dringend mal eben den Watzmann erklimmen.

Bleibt also der Urlaub. Da wird jeder Berg genommen. Man läuft hoch, guckt hinunter (Oh Mann, von so weit unten sind wir gekommen, wie klein das dort alles ist…), dann läuft man wieder hinunter und guckt hoch (Wow, da oben bin ich vorhin noch gewesen!).
Wobei „laufen“ geradezu eine Beleidigung ist für die Strapazen, die manche Leute auf sich nehmen, um einen Gipfel zu erobern, zu bezwingen, wie man auch sagt. So, als wehre sich der Berg mit allen Kräften dagegen, dass jemand oben auf seinem Kopf spazieren geht.
Natürlich gibt es gute Gründe, oben auf einem Berg zu stehen. Man gewinnt einen Überblick, egal, ob der einem nun etwas nutzt oder nicht, da liefern heutige Computerprogramme ein viel zuverlässigeres Bild, noch dazu unbeeinflusst vom Wetter. Religiös angehauchte Menschen wiederum können sich darauf berufen, dass der jeweils angebetete Gott des Öfteren mit Leuten gesprochen hat, wenn sie oben auf einem Berg gestanden haben, siehe Moses (der ja dann auch ordentlich Ärger hatte mit dem, was sein Gott ihm aufgetragen hatte).
Und, ja doch, auf hohen Bergen, noch dazu, wenn man selbst hinaufgelaufen ist, kann einen ein Gefühl von Erhabenheit überkommen. Ein Gefühl von Weite. Von Größe und Kleinheit gleichzeitig. Man bekommt eine Ahnung von den Dimensionen dieser Welt, die einem zwischen den Mauern der Städte verlorengegangen ist, wenn man in diesen Momenten (ich wiederhole mich, ich weiß) die Kamera oder das Fotohandy für ein paar Minuten beiseite lässt und sich nur seinen Eindrücken hingibt, die kein noch so gutes Foto festhalten kann. Es ist so, wie Reinhard Mey über das Fliegen geschrieben hat: Das, was vorher groß und wichtig aussah, das wird von oben nichtig und klein.
Und doch bleibt es stets bei dem gleichen Ablauf: Hochlaufen, runtergucken, runterlaufen, hochgucken. Und auch darüber freut sich der Reiseleiter: Nach einer ordentlichen Bergwanderung sind die Reisegäste meist so rechtschaffen müde, dass sie nicht lange über das Abendessen nörgeln, Hauptsache es ist deftig und reichlich.

Ich werde mich für die nächsten knapp 14 Tage nach Irland aufmachen (deshalb ist im Sommer die Pause zwischen zwei Blogeinträgen immer etwas länger – auf Reisen kommt man nicht zum Schreiben, ich zumindest nicht). Auch dort warten Hügel darauf, bezwungen zu werden. Ich werde sogar noch einen Aufstieg anbieten, der gar nicht im Programm steht. Wenn man bei Kylemore Abbey den Pfad hinauf zu der Jesusstatue oben am Berg bewältigt hat, dann hat man von dort einen atemberaubend schönen Ausblick. Ich werde natürlich sagen, dass nur diejenigen mitkommen sollen, die sich fit genug fühlen und sich das zutrauen – es wird wieder die große Mehrheit sein. Eine Bergbezwingung lässt man sich nicht entgehen.

Eine meiner Lieblings-Comics handelt von Hägar dem Schrecklichen, jenem furchtlosen Vikinger, der vor nichts auf der Welt Angst hat, ausgenommen seine Frau Helga. Auf einem Bild steht er oben auf einem Gipfel, wahrscheinlich in den Alpen, und ruft jubelnd: „Ich bin der König der Welt“ – um auf dem nächsten Bild recht unsanft von einem Steinbock heruntergeschubst zu werden.

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