Rüdiger Jung
Rezension zu „Gespräche am Teetisch“. Roman von Johannes Chwalek
Frankfurt am Main 2019 (edition federleicht), 198 S.
Der tiefenentspannte Titel täuscht. Jeannot Haller, der Protagonist und Ich-Erzähler, erleidet ein Martyrium. Nervenzerrend für den Leser, der nicht umhinkommt, es nachvollziehend mit zu erleiden und – das macht den Roman im Eigentlichen aus – Schritt für Schritt Zeuge seiner Befreiung zu werden. Die Exposition:
„Die Stiefmutter prügelte meine vier älteren Geschwister und mich, aber nicht ihre eigenen Kinder. Zur prügelnden Stiefmutter gehörte ein Vater, der wegsah und nicht wahrhaben wollte, was in seinem Haus geschah, während er seiner Arbeit nachging in einer anderen Stadt, wohin die Schreier seiner geprügelten Kinder niemals dringen konnten. So war die Situation in jenem Einfamilienhaus in einer pfälzischen Kleinstadt um das Jahr 1970 herum.“ (S. 9)
Der „biologische Vater“ – so wird er wegen fehlender anderer Vater-Qualitäten von nun ab durchgehend genannt – weiß grosse Worte zu zitieren:
„Ich bin absolut nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie Ihre Meinung sagen können!“ (S. 11)
Das Leiden seiner Kinder aus erster Ehe mindern die hehren Worte leider nicht. Dass sich die Anlässe der Gewaltorgien seiner Stiefmutter der reinen Willkür verdanken, ist Jeannot klar:
„Insgeheim wusste ich längst, dass die Ursache jeden Anlasses ich selbst war, meine bloße Existenz – aber warum war das so war, wusste ich nicht. Warum war das so? (S. 13)
Jeannot in all seiner Ohnmacht entwickelt eine Vorstellung davon, wie Gegenwehr aussehen könnte:
„Ich schreibe euch auf! Ich beschreibe euch genau! Alles wird zu lesen sein über euch! Alles!“ (S. 14)
Tatsächlich tut sich ihm die Rettung auf: ein Internat! (S. 16) Erstmals hat er ein geschütztes Areal der Intimität und Privatheit:
“‘Du hast noch ein zweites Fach, das kannst du sogar abschließen, das zeige ich dir jetzt‘, sagte Frau Hackl.“ (S. 27)
Das Tagebuch wird „die erste Waffe“, die er Stiefmutter und biologischem Vater gegenüber in Händen hält. (S. 29) Und weiß, wie sorgsam er damit umgehen, wie sorgsam er sie vor allem verbergen muss, dass sie nicht vorzeitig entdeckt wird – so wie es Solschenizyn, seinem großen Vorbild, mit seinen Schriften erging. (S. 30)
Das Tagebuch wird im Internat zum Medium der Selbstvergewisserung – an dem neuen Ort, der ihm guttut. Zugleich ist der Alpdruck trotz Distanz noch nicht gänzlich überwunden – gibt es doch die Ferien, die Heimfahrwochenenden.
„Im Internat will ich das Einfamilienhaus vergessen, obwohl es immer noch da ist […] der Grund für das Vergessen-Wollen ist ganz einfach: Hier lebe ich mit freundlichen Menschen. zusammen […] Was das Vergessen-Wollen betrifft, kommt noch etwas dazu: Ich schäme mich dafür, dass meine älteren Geschwister und ich so schlecht behandelt worden sind. Ich schäme mich für meine Erinnerungen! (S. 39 f.)
Das Tagebuch wird zum intimsten Gesprächspartner. (S. 45) Überdies bietet das Internat eine Distanz, die den Blick auf das, was im Einfamilienhaus geschehen ist und geschieht, schärft. Wer hat von der Not der Stiefkinder etwas mitbekommen, wer hätte helfen können?
„Was ist überhaupt mit den Verwandten meines biologischen Vaters? Drei Brüder hat er […] die haben alle Ehefrauen und Kinder. Wissen die etwas von der Gewalt im Einfamilienhaus? Und die Nachbarn? Und der Pfarrer? Und die Lehrerinnen und Lehrer?“ (S. 49)
Das Erzähler-Ich fragt nach vertanen Möglichkeiten von Flucht und Gegenwehr:
„Warum habe ich meine winzige Freiheit im Garten nicht erweitert durch Flucht über den Zaun zu den Nachbarn links oder gegenüber?“ (S. 50 f.)
„Warum hat sich Bert misshandeln lassen? War er mit fast achtzehn Jahren kräftemäßig der Stiefmutter nicht mindestens ebenbürtig? […] Warum liefen Udo und ich nicht auf die Straße und schrien nach Hilfe?“ (S. 66)
Der Bericht über die „Lehrerin aus meiner Grundschulzeit“ (S. 53) belegt: mit einiger Nachhaltigkeit wäre Hilfe von außen möglich gewesen. Unantastbar ist die prügelnde Stiefmutter offensichtlich nicht!
Jeannot vertraut all diese Überlegungen seinem Tagebuch an. Aber damit an andere herantreten – wer wird ihm glauben? (S. 57 f.)
Da war der Neid auf Harry gewesen, der das Einfamilienhaus hatte verlassen dürfen: „Mensch, du hast es gut!“ (S. 59 f.)
Der Terror der Stiefmutter hat eine Nachtseite, die aber nun erstaunlicherweise ihre Treffbarkeit offenbart: nächtliche Tobsucht mit Türenschlagen (S. 73) führt nun tatsächlich dazu, dass ihr Mann sie einsperrt (S. 76), ein Arzt sie mit einer Spritze sediert (S. 77), sie in die Psychiatrie kommt. (S. 80)
Jeannot, der schon sein Tagebuch unter Verschluss geschickt als Drohkulisse aufgebaut hat, lässt die Worte „häusliche Gewalt, Staatsanwaltschaft“ (S. 82) wie nebenbei fallen. Er denkt daran, nicht mehr alles für sich zu behalten, sich Herrn Brückner anzuvertrauen (S. 84), Hilfe vom Rektor und vom Präfekten in Anspruch zu nehmen (S. 91), und in der Tat: vom „Herrentisch“ treffen Jeannot besorgte Blicke. (S. 106)
Aus einem schwachen Schüler ist ein guter geworden. (S. 86) Einer hat besonders seinen Anteil daran:
„Wie viele neue Wörter gab es, die ich nicht kannte, noch nie gehört hatte. Die Überlegenheit der Erwachsenen bestand in ihrer Sprache. Sie kannten alle Wörter, mit denen sie die Welt restlos benennen und erklären konnten, jede einzelne und denkbare Angelegenheit. Nie gingen ihnen die Wörter aus […] Der Prä […] forderte mich zum Denken und Sprechen heraus.“ (S. 149)
Gefragt vom Prä, was ihn an Solschenizyn so fasziniere, entgegnet Jeannot: „Er hat sich gewehrt.“ (S. 100)
Es gibt Szenen, Momente, Augenblicke, die schneiden dem Leser ins Herz. Etwa, wo ein guter Freund Jeannots von seiner Mutter in den Arm genommen wird, und die Mutter des Freundes seinen großen Blick gar nicht anders auffangen kann als mit der Vermutung, das würde ihm doch zuhause sicher auch so widerfahren.“ (S. 91)
Das Internat ist – mit einem neuen Rektor – im Umbruch. Individuelle Lebensberatung ist im Angebot – für die Schüler und ihre Familien. (S. 89) Die Änderung der Heimfahrtregelung ist weniger schön: mehr Einfamilienhaus! (S. 95) Aber die Qual läuft auf ein Ende zu.
In sein Tagebuch schreibend hat Jeannot sich Luft verschafft – das tut er nun auch malend. Besonders der Prä regt Jeannot dazu an, kreativ, sprachlich, auch bildnerisch mit dem umzugehen, was er erlebt und erlitten hat.
„Ein starker Kerl schlägt meinen biologischen Vater“ (S. 110). Der Vater rechtfertigt sich vor Jeannot: „Ja, ich habe doch nichts damit zu tun! Ich schlage dich doch nicht!“ (S. 110) Nein, tut er nicht – aber hat es alle Jahre geschehen lassen und seine Kinder aus erster Ehe schutzlos der Stiefmutter, der „Mordbrüllerin“ (S. 94), preisgegeben.
Das Tagebuch hört auf, ein Selbstgespräch zu sein. Und gerade weil Jeannot ihm alle Not und alles Leid präzise aufzeichnend anvertraut hat, ist sein ganzes Martyrium ein offenes Buch, in dem nur noch einer lesen muss.
„‚In dein Tagebuch habe ich mich vertieft‘, sagte der Prä am nächsten Abend. ‚Es tut mir sehr leid, was du mit der Stiefmutter und mit deinem Vater erleben musstest. Die Stiefmutter ist eine Psychopathin, aber eine berechnende, weil sie sich für ihre Aggressionen die schwächsten Wesen ausgesucht hat, die sie finden konnte: von ihr abhängige, mutterlose Kinder. Was der Vater mit seinen eigenen Kindern geschehen ließ – oder lässt, vor allem auch mit dir, begreife ich nicht. Aber wie auch immer: Ich werde alles daransetzen, dich aus der fatalen Familiensituation im pfälzischen Einfamilienhaus herauszuholen, falls du damit einverstanden bist.“ (S. 126 f.)
Der Prä fragt nach der (verstorbenen) richtigen Mutter, lenkt ein Stück weit den Blick auf sie. (S. 127)
Geradezu prophetisch sagt der Prä über die Stiefmutter und den Vater im Einfamilienhaus, später würden sie lachende Enkel dazu instrumentalisieren, sich selbst im Nachhinein als gute Eltern auszuweisen. (S. 135) Der Prä kann Jeannot sein Leid nicht erklären, aber doch Verstehenshilfe leisten – z.B. indem er an der Täterin auch das Opfer auftut: Die Stiefmutter wollte „eine Art erweiterten Selbstschutz betreiben […], als sie einen Witwer mit fünf Kindern geheiratet hat. […] Sie spürte, dass sie wegen ihrer eigenen Gewalterfahrungen in der Kindheit – wovon ich fest ausgehe – ihre eigenen Kinder misshandeln würde. Um dies zu vermeiden, heiratete sie einen Mann mit fünf kleinen Kindern, an denen sie ihren Hass auf ihre Gewalt-Kindheit austoben konnte, während ihre beiden Kinder verschont blieben.“ (S. 136)
Eine scharfsichtige Analyse, aber Jeannot braucht für sich selbst noch etwas anderes, und der Prä umschreibt es so:
„sei dir darüber im Klaren, dass Arbeit vor dir liegt […] Seelenarbeit […] In einem Buch über Goethe habe ich von einem geistig-seelischen Immunsystem gelesen, das es neben dem körperlichen gebe. Es erfülle die Aufgabe zu unterscheiden, ‚was man in sich hineinläßt und was nicht‘. Dein geistig-seelisches Immunsystem ist in den Jahren im Einfamilienhaus dauernd missachtet worden, weshalb du im Geist, deiner Seele und allen Körperzellen Gift anhäufen musstest – du schreibst übrigens selbst in deinem Tagebuch davon. Dieses Gift gilt es wieder loszuwerden.“ (S. 161)
Vom Rektor und vom Prä hat Jeannot sich Hilfe erhofft – und erhalten. So wie der Prä ihm zum verständnisvollen Begleiter dabei wurde, mit all dem Erlittenen umzugehen – so nimmt sich der Rektor den ganz und gar pflichtvergessenen Vater zur Brust. Im Tagebuch hat Jeannot einst notiert, wie der „biologische Vater“ seine geschlagenen Kinder aus erster Ehe dazu ermahnte, „Rücksicht“ auf die Kinder der Schlägerin zu nehmen (S. 41). Das ganze Versagen des Vaters erfährt hier – auch in den Worten des Rektors – seine äußerste Zuspitzung:
„Das mutterlose Kind, das ins Gesicht gespuckt bekommt, soll Rücksicht nehmen auf diejenigen, die eine Mutter haben und nicht ins Gesicht gespuckt bekommen. Ist das Ihre Denkweise?“ (S. 179)
Die abschließende Frage kann nurmehr eine rhetorische sein:
„Sie sind damit einverstanden, dass Jeannot vorläufig nicht mehr zu Ihnen nach Hause kommt, sondern die Heimfahrwochenenden im Internat verbringt. Was in den Ferien mit ihm geschehen soll, überlege ich noch, auf keinen Fall darf er wieder mit Ihrer Frau zusammentreffen.“ (S. 180)
Am Ende der kritische Hinweis, dass ein wichtiges Hilfsangebot schlicht verpasst wurde:
„Dass das Internat seine Hilfe anbietet, bei familiären Problemen, habe ich beim ersten Elternabend gesagt, aber Sie waren nicht da.“ (S. 182)
Die Distanz zum Einfamilienhaus bleibt gewahrt. Im „Nachtrag“ berichtet der Ich-Erzähler:
Bis zum Abitur blieb ich in B. im Internat, danach zog ich zum Studium nach H., circa vierzig Kilometer von B. entfernt. (S. 185)
Der Einrichtung, die ihn gerettet hat, gedenkt Jeannot nicht ohne Melancholie:
„Ich war Internatsschüler zu einer Zeit gewesen, die als Aufbruchsphase gefeiert wurde und in Wahrheit den Schwanengesang bildete.“ (S. 186)
Bernhard Ruppert (Klappentext, Buchrückseite) ist recht zu geben, dass „man sich unwillkürlich fragt, ob dieser Roman nicht autobiographische Züge trägt. Welcher Romancier könnte solche Szenen in dieser lebendigen Dichte erdenken und inszenieren? Der Autor zeigt: Häusliche Gewalt ist weder ‚gottgegeben‘ noch blindes, unabwendbares Fatum – sie war und ist Menschen-gemacht. Und damit veränderbar und abwendbar.“