Sehgewohnheiten


Sehgewohnheiten

Im September 1971 verpackte der bulgarische Künstler Christo das Schloss, die Burgruine und Bürgerhäuser des Eifelstädtchens Monschau mit Plastikbahnen. In der Tageszeitung des Internats, die in Glaskästen ausgehängt wurde und die ich im Zeitfenster nach der Rückkehr von der Schule bis zum Mittagessen oder in der Freizeit nach dem Mittagessen bis zum Beginn des Studiums, das heißt der Hausaufgaben- und Übungsstunden, regelmäßig zur Kenntnis nahm, las ich nichts davon. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass ich es doch gelesen habe, der Angelegenheit aber so wenig Bedeutung beimaß, dass ich keine Erinnerung mehr daran habe. Oder dass die Zeitung keinen Bericht über die Kunstaktion Christos brachte, die Verhüllungsaktion in Monschau mir auch später in keiner Weise mehr unterkam und ich deswegen bis vor kurzem – als ich in einer Chronik einen entsprechenden Hinweis gefunden habe – nichts davon wissen konnte.

Die Zeitungslektüre bildete für mich Unterstufler, wie wir damals sagten, die einzige Möglichkeit, Nachrichten zu erfahren. Ein Radio besaß ich nicht und vor den Fernseher durfte ich mich mit meinen Kameraden nur einmal in der Woche setzen, um einen Kinderfilm zu schauen. Hätte ich damals von der Verhüllungsaktion Christos in Monschau Kenntnis erhalten, hätte ich sie wohl allenfalls kurios gefunden und mich nicht mit der Absicht des Künstlers beschäftigt, Plastikbahnen und Seile zu verwenden, um Sehgewohnheiten zu stören, zu erneuern und dabei Bewusstseinsprozesse in Gang zu setzen. Sogar als das Künstlerpaar Christo und Jean-Claude 1995 – 19 Jahre nach meiner Internatszeit – den Reichstag in Berlin verhüllte, reagierte ich im Anblick der Fernsehbilder lediglich mit kurzer Verblüffung, was es nicht alles gebe. Damals unterrichtete ich abends in einem Privaten Lehrinstitut in M. zumeist junge Erwachsene in Kursen des Zweiten Bildungsweges. Der Institutsleiter war ein bärbeißiger Mann, der auf den Pfennig achten musste und mit sarkastischen Bemerkungen seinem Unverständnis über die Kunstaktion in Berlin Ausdruck verlieh. Wären Christo und Jean-Claude nicht zufrieden gewesen über den Institutsleiter und mich? Dieser schimpfte über den in seinen Augen unnützen und teuren Aufwand, und ich überlegte wenigstens kurz, ob er recht hatte oder nicht.

(Auszug aus dem Manuskript „Große und kleine Geschichten“)