Ullmann der Fatalist und seine Gäste


 

 

Ullmann der Fatalist und seine Gäste

Am Abend steht die Lichterfahrt durch Las Vegas auf dem Programm. Sie ist fakultativ und kostet extra, es haben sich jedoch alle Reisegäste dafür eingetragen. Jake, unser Fahrer und Reiseleiter in einem, und ich als Reisebegleiter haben dafür geworben, denn erst bei Nacht wird Las Vegas zu dem, was man sich darunter vorstellt.

Unser Hotel liegt abseits vom großen Boulevard, von hier aus sieht die Skyline von Las Vegas aus wie die etlicher anderer US-Großstädte. Man sieht schon, dass sich hier einige exzentrische Architekten ausgetobt haben, wenn man das riesige „Mandalay Bay“-Hotel sieht oder den Nachbau des Empire State Buildings. Aber eine ähnliche Exzentrik findet man auch beim abendlichen Blick von Treasure Island auf die Skyline von San Francisco, das ist noch nichts Einzigartiges.

Erst im Nachtlicht erwacht die Faszination der Stadt, die wir den Gästen vermitteln wollen.

Jake und ich haben uns abgesprochen. Da er als Fahrer beim Bus bleiben muss, werde ich mit den Gästen einzelne Strecken zu Fuß zu gehen, denn das Innenleben der Spielpaläste ist mindestens ebenso sehenswert wie ihre Fassade.

Jake hat zwei Paletten Budweiser und ein paar Flaschen alkoholfreie Getränke besorgt, wir beginnen um 19 Uhr und fahren in Richtung Norden, nach Downtown. Vor dem California Hotel kann der Bus stehen bleiben und ich laufe mit den Gästen zur Fremont Street. Wir gehen ins „Golden Nugget“, wo wir hinter der Rezeption die Vitrine mit den riesigen Goldklumpen ansehen. Warum hat noch niemand von uns beim Umgraben des Gartens ein solches Exemplar gefunden? Gleichzeitig bewundern wir das Schwimmbad, dessen Rutsche mitten durch ein Aquarium mit gewaltigen Fischen drin führt.

Um 19:45 sind wir wieder auf der Fremont Street, ich gebe den Gästen 15 Minuten Zeit zum Schlendern. Sie können die Souvenirstände betrachten oder den Waghalsigen zusehen, die alle paar Minuten in Vierergruppen an Stahlseilen unter dem riesigen Kuppeldach, welches über die Straße gespannt wurde, durch die Luft von einem Ende zum anderen sausen.

Um 20 Uhr treffen wir uns zur Videoshow. Dann verwandelt sich das Kuppeldach über der Straße in eine Leinwand aus Millionen LEDs, auf der eine viertelstündige Videoshow mit Hits der Band „Heart“ gezeigt wird. Sehr laut, sehr bunt, sehr beeindruckend. Um 20:15 Uhr ist alles vorüber und wir gehen zurück zum Bus, zwängen uns an einer Bühne vorbei, auf der gerade ein voluminöses Elvis-Double seine Show mit „It’s allright, Mama“ beginnt.

20:30 Uhr fahren wir weiter, den Boulevard nach Süden. Wir lassen das „Stratosphere“ rechts liegen und belächeln die kleinen Hochzeitskapellen links, insbesondere die „Graceland-Chapel“ mit dem pinken Cadillac davor, in der Elvis geheiratet hat. Jake erklärt, dass es mit dem Scheidenlassen in Las Vegas nicht ganz so einfach ist wie mit dem Heiraten, dazu muss man schon ein paar Wochen in Las Vegas gelebt haben.

Von unserer Gruppe mag keiner heiraten, also bleibt das Angebot der „Drive-thru“-Kapelle von uns ungenutzt und es geht in die Tiefgarage unterhalb des „Venetian“. Toilettenpause und dann nach oben. Die Etage mit den Spielautomaten lassen wir aus, davon werden die Gäste später noch mehr zu sehen bekommen, statt dessen geht es gleich mit der Rolltreppe nach oben zum Markusplatz.

Wir schlendern zum Canale Grande, dem wir folgen, wobei wir den künstlichen Himmel bewundern, der so gestaltet ist, dass man beim Laufen das Gefühl hat, die Wolken bewegten sich tatsächlich. Und im Gegensatz zum echten Venedig scheint hier niemand ein Problem damit zu haben, wenn der Gondoliere eine Gondoliera ist. Wir spazieren durch ein Venedig, das so proper und gepflegt ist, dass sich wahrscheinlich mancher Venezianer wünschen würde, seine Stadt wäre genau so, dann kommen wir auf der Loggia des Dogenpalastes an. Von hier aus kann man den Vulkan sehen, der gegenüber liegt, neben dem „Mirage“, und der, meiner App nach, alle halbe Stunden ausbrechen soll, das nächste Mal also um 21:30 Uhr.

Bis dahin ist noch eine Viertelstunde Zeit, also schlendern wir über die Rialtobrücke zum Campanile und bewundern die Architektur, der Canale Grande hier im „Venetian“ liegt nämlich auf zwei Ebenen und verbindet das Innen mit dem Außen.

Um 21:30 – kein Vulkanausbruch. Meine App scheint nicht auf dem neuesten Stand zu sein. Wir beraten kurz, ob wir bis um 22:00 Uhr warten wollen, dann beschließen wir, zum Bus zurückzukehren und die Fahrt fortzusetzen.

Als nächstes möchte ich mit den Gästen durch das „Belagio“ laufen. Ich will ihnen die überbordenden, phantasievollen Blumenarrangements zeigen und das Ganze so planen, dass wir, wenn wir auf der anderen Seite wieder herauskommen, die faszinierenden Wasserspiele mit Musik sehen können. Das wäre ein wundervoller Abschluss der Tour. Dazu müsste der Bus in einer kleinen Straße neben dem Nachbau des Eiffelturms parken – da wir jedoch, aus dem „Venetian“ kommend, in Richtung Süden den Boulevard befahren, können wir dort nicht einfach links abbiegen.

Jake und ich beschließen also, bis ans südliche Ende zu fahren, zu dem „Welcome to fabulous Las Vegas“-Schild. Vor diesem können sich die Gäste gegenseitig fotografieren und wir können wenden, um zum „Belagio“ zu fahren. Also vorbei an New York, am „Excalibur“, an der Pyramide des Luxor, deren in den Himmel gerichteten Laser-Lichtstrahl man bei klarem Wetter noch in 100 km Entfernung sehen soll, vorbei am Mandalay Bay, dem angeblich größten Hotel der Welt

22:10 sind wir an dem bekannten Schild, die Gäste steigen aus dem Bus – gleichzeitig kommen mit einem Mal aus allen Richtungen Polizeiautos mit Blaulicht angeschossen und fahren den Boulevard in nördliche Richtung hinauf. Im ersten Moment albern wir noch herum, da hat wohl jemand beim Pokern die Bank gesprengt, da es aber immer mehr Polizeiautos werden, bekommen wir ein mulmiges Gefühl. Als alle wieder im Bus sind, stellen wir fest, dass der Boulevard in nördlicher Richtung komplett gesperrt ist, wir habe gar keine andere Wahl, als die Tour hier abzubrechen und, das Stadtzentrum weiträumig umfahrend, zum Hotel zurückzukehren – plötzlich wird es ein großes Plus, dass es etwas abseits liegt.

Jake versucht noch während der Fahrt, im Internet an Informationen zu kommen, vergeblich. Wir verteilen die restlichen Bierbüchsen und alle gehen auf die Zimmer, wobei sie das Spielcasino des Hotels durchqueren müssen – also auch Roulettetische und Daddelautomaten bekommen wir noch reichlich zu sehen.

Je nach Müdigkeit erreichen uns dann in der Nacht oder am Morgen die Nachrichten über das, was passiert ist. Ein Verrückter hat aus der 32. Etage des „Mandalay Bay“ das Feuer auf die Besucher eines Country-Konzertes eröffnet, am Ende waren 58 Menschen tot, wobei nicht bekannt ist, wie viele davon erschossen oder in Panik totgetrampelt wurden, und mehr als 500 verletzt.

Jake sagt, er habe beim Vorbeifahren ein merkwürdiges Geräusch gehört, so ein seltsames Ploppen – aber in Las Vegas ploppt und donnert und blitzt und knallt es üblicherweise die halbe Nacht über, zudem waren wir auch dicht am Flughafen, wo der Geräuschpegel ohnehin sehr hoch ist.

Doch beim Nachvollziehen des Zeitplans wird mir klar: Wir sind genau in dem Moment am „Mandalay Bay“ vorbeigefahren, als der kranke Mensch das Feuer eröffnet hat. Und wir haben nichts davon gemerkt. Uns ist niemand blutüberströmt vor den Bus gelaufen, wir haben keine markerschütternden Schreie gehört, nichts.

Wenn er allerdings auf den Gedanken gekommen wäre, statt auf die Konzertbesucher auf Autos zu schießen – nach allem, was man über die Waffen in seinem Zimmer weiß, hätte er ohne weiteres die Möglichkeit gehabt, unseren Midibus in eine Büchse mit blutigen Steaks zu verwandeln. Und niemand hätte etwas dagegen tun können, weder Jake noch ich, weder die gesamte Polizei des Bundesstaates Nevada noch der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.

Wie geht man mit so etwas um?

Warum trifft es immer Orte, die ich mit einem Gefühl von Heiterkeit und Ausgelassenheit verbinde?

Im vergangenen Jahr, da kam es mir schon ziemlich knapp vor. Eine Woche, nachdem ich in Nizza auf der Promenade des Anglais gestanden habe, bis dahin einer meiner Lieblingsorte in Europa, eben wegen der Atmosphäre von Leichtigkeit und Lebensfreude, die einen dort gefangen nehmen kann, eine Woche danach ist ein Verrückter im Namen eines wehrlosen angeblichen Gottes in eine feiernde Menschenmenge hinein gerast und seitdem liegt ein Schatten auf diesem Ort.

Nun Las Vegas. Dichter geht es kaum noch.

Sicher, in Las Vegas geht es darum, Geld zu machen. Viel Geld. Und natürlich ist diese Stadt komplett überdreht, wobei sie meiner Meinung nach nicht nur eine, sondern mindestens zehn Drehungen zuviel auf der Spule hat. Aber Las Vegas ist eben auch deshalb Las Vegas, weil täglich tausende Menschen aus buchstäblich jedem Land der Welt, vielleicht mit Ausnahme von Nordkorea, hierher kommen, um sich davon verzaubern und faszinieren zu lassen, dass diese Stadt kein Maß kennt. Schon gar kein Mittelmaß. Hier muss alles das Größte, Spektakulärste, Atemberaubendste der Welt sein.

Und nun ist die Stadt Ort des größten Massakers in den USA seit vielen Jahrzehnten geworden.

Vor zwei Tagen hat sich Jake in San Francisco im Hotel mit der Reiseleiterin einer anderen Gruppe unterhalten, ich schätze, eine Deutsche, die in den USA lebt. Es ging darum, dass im Yosemite-Nationalpark, der an diesem Tag auf unserem Programm stand, in den Tagen zuvor einige Menschen bei Erdrutschen verletzt wurden, einer sogar getötet. „It’s better them than us“ – besser die als wir – meinte die Reiseleiterin lapidar. Der Satz hat mich erschreckt.

Und jetzt stehe ich am Morgen mit meiner Reisegruppe da und sage ihnen, sie sollen schnell zuhause Bescheid geben, dass uns nichts passiert ist. Dasselbe gebe ich meinem Reiseunternehmen durch – WIR sind wohlauf, WIR werden die Fahrt wie geplant weiterführen.

Es kommt uns zupass, dass selbst jetzt, frühmorgens um 7, im Casino des Hotels Menschen an den Spielautomaten sitzen und sie ungerührt mit Dollars füttern als sei nichts geschehen. Weniger als sonst, habe ich das Gefühl, aber immerhin. Und nachdem wir Las Vegas verlassen haben, den Innenstadtbereich in weitem Bogen umfahrend, gelangen wir zum Zion-Nationalpark und später zum Bryce Canyon, in Landschaften, die überwältigend schön sind und den wohl größtmöglichen Kontrast zu Las Vegas bilden.

Unser Nachtquartier befindet sich in Antimony, einem Ort, buchstäblich am – allerletzten Ende der Welt. Die Ranch wird von Mormonen betrieben, es gibt kein Bier, selbst der Kaffee zum Frühstück ist koffeinfrei, dafür eine Country-Lifeband, die mit unserer Gruppe Linedance einübt. Der Kulissenwechsel zum Vorabend ist so komplett, dass die meisten innerhalb kurzer Zeit eine wahrscheinlich hilfreiche Distanz aufbauen.

Es gibt keine absolute Sicherheit, darüber haben wir uns lange unterhalten. Es sei denn, man verbarrikadiert sich daheim, lässt niemanden herein, geht nirgendwo mehr hin – aber wäre das ein Leben?

Es kann einen überall erwischen, das ist die Schizophrenie dieser Zeit, damit muss man leben – und gerade darum sollte man dieses Leben an jedem Tag genießen. Dann hat man, wenn es einen tatsächlich treffen sollte, immer noch mehr vom Leben gehabt als derjenige, der sich vor Angst komplett eingegraben hat – diese Ansicht habe ich nach dem Anschlag in Nizza im vergangenen Jahr entwickelt und sie findet jetzt Zustimmung.

Ein paar Tage später treffen wir den Bus mit der anderen Reiseleiterin bei der Einfahrt in den Joshua-Tree-Nationalpark wieder. Und als wir den Park verlassen, steht deren Bus am Ausgang und daneben ein Krankenwagen mit Blaulicht. Später erfahren wir, dass sich eine Frau aus diesem Bus beim Laufen durch den Park den Knöchel gebrochen hat.

„It’s better them than us“, denke ich und könnte mich im nächsten Moment für diesen Gedanken ohrfeigen.

Dass es einen jederzeit erwischen kann, dass man nichts dagegen tun kann und dass man deshalb das Leben umso mehr genießen soll, das ist eine Form Fatalismus, die man sich als Reiseleiter wohl aneignen sollte. „Better them than us“ – das ist Zynismus. Und wenn ich Zyniker werde, dann will und kann ich nicht mehr als Reiseleiter arbeiten.

Ich hoffe, dass ich noch auf der Stufe des Fatalisten stehe.

Ob ich wieder nach Las Vegas fahren würde? Wenn ich gefragt werden würde: Jederzeit. Sofort.

                     

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