Von Dunkelheit und Helle


 

Auszug: Farben und Worte. Zwei Reden zur Kunst, 2012

 

Von Dunkelheit und Helle– zweifellos bilden Tag und Nacht gemeinsam den Volltag. Aber sie stellen nicht einfach gleichsam die Kehrseite einer Medaille dar. Sie sind – das ist meine These – nicht gleichgewichtig. Dunkelheit erweist sich vielmehr gewissermaßen als Nährboden oder als Quelle lichter Stunden und nimmt deshalb den ersten Rang ein.

Ich beginne, um meine Ansicht vom Primat der Dunkelheit zu untermauern, mit der lebensnotwendigen Nachtruhe. Im Heilbrunnen Schlaf finden wir, wenn wir ermattet sind, Stärkung. Werden die Lider schwer, wäre es töricht, den Fingerzeig zu missachten. Leib und Geist streben, schläfrig geworden, dem schwarzen Quell zu, um neue Spannkraft zu erhalten. Sie schicken sich an, unter nachtblauen Fittichen zu ruhen und die Gabe der Verwandlung zu empfangen. Helligkeit fordert Energien ein, führt das Schiff nicht selten in schwere Wasser – Düsternis setzt es instand.

Die Erfahrung lehrt, dass es ratsam sein kann, eine wichtige oder noch mit Zweifeln behaftete Sache vor einer Entscheidung erst noch zu beschlafen oder zu überschlafen, sie also den nützlichen Wirkungen des Schlummers auszusetzen. „Der Morgen“, sagt treffend der Volksmund, „ist weiser als der Abend.“

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Für Jäger- und Sammlervölker, für die Bewohner des antiken Mesopotamiens und die durch sie beeinflussten Juden, für Griechen und Germanen endete der alte Tag, wenn die Sonne unterging, und es begann der neue Tag. Unser Sonnabend zum Beispiel, der früh auf den Gesamttag ausgedehnte Vorabend vor Sonntag, und das englische fortnight für den Zeitraum von vierzehn Tagen legen Zeugnis für die alte Zählweise ab.

Neben den Wirkungen des Nachtschlafes und der früheren Zeitbestimmung unterstreicht vor allem der Mythos die Vorrangstellung der Dunkelheit. Gemeint sind hier die Schöpfungserzählungen der Völker, die sogenannten kosmogonischen Mythen.

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