Wegmarken mit Heinrich – Fortsetzung


Wegmarken mit Heinrich

Teil 2 von 2

 

Da schrieb er mir, dass er als Vertretungslehrkraft nur befristete Verträge bekomme, in den Sommerferien sei er arbeitslos. Ich solle ihm glauben, wie schwer es sei, dauernd umzuziehen, keine Möbel, keine Büchersammlung besitzen zu können. Auch keine Bücher?, fragte ich. Er antwortete, dass er seine Bücher in drei verschiedenen Städten gelagert habe. In seiner Situation sei es am besten, nur das zu besitzen, was in einen Koffer passe. Eine Frau und ein Kind zu haben wie ich, sei für ihn gar nicht denkbar. Zwar hoffe er, dass er vielleicht doch noch eine feste Anstellung erhalte, aber es sehe eher nicht danach aus.

Was war passiert? Wie war er in diese Lage geraten? Sofort wollte ich ihn das nicht fragen, ich vertraute darauf, es nach und nach zu erfahren. So kam es auch, wenigstens zum Teil. Heinrich hatte den Lehrerberuf nicht angestrebt, er besaß die Fakultas in evangelischer Religion, nicht in den Fächern, die er daneben seit Jahren fachfremd unterrichtete: Physik und Englisch. Der Bezug zu diesen Fächern ergab sich aus seinem Studienaufenthalt in den USA, wo er eine Doktorarbeit über das religiöse Weltbild von namhaften Physikern des 20. Jahrhunderts geschrieben hatte. Ursprünglich hatte er evangelischer Pfarrer werden wollen, überwarf sich aber während des Vikariats mit seinen Vorgesetzten und brach die Ausbildung ab. Wahrscheinlich war er dann schon auf den Ausweg geraten, als Vertretungslehrkraft sein Geld zu verdienen. Dabei war es geblieben, bis ich ihn im Frühjahr 2006 am M.er Hauptbahnhof zufällig wieder getroffen hatte.

Einen weiteren, mich kaum weniger irritierenden Ton schlug Heinrich an: Er beschimpfte alle möglichen Leute, die er während seines Berufslebens kennengelernt hatte, besonders seine ehemaligen Vorgesetzten. Zwei Pädagogen hätten auch vor Meineid gegen ihn nicht zurückgeschreckt, er sei damals in keiner Rechtschutzversicherung gewesen und hätte deshalb nicht gegen die beiden prozessieren können.

Auch mit dem Schulleiter des Gymnasiums, an dem er aktuell einen Vertretungsvertrag besaß, war er überkreuz. Das Gymnasium befand sich ganz in der Nähe meines Wohnortes. Ich vermittelte ihm eine kleine Stelle als Englischlehrer am Privaten Lehrinstitut, wo ich als Student unterrichtet hatte. Die Kurse fanden abends statt und waren deshalb für ihn zu leisten. Oft trafen wir uns vor Kursbeginn noch zu einem gemeinsamen Imbiss in der Stadt. Aber wohin war das Feuer unsrer Jugendzeit im Internat in B. verflogen? Nicht lange behielt Heinrich die Stelle als Englischlehrer am Privaten Lehrinstitut. Nachdem er im Unterricht mitten im Satz eingenickt und eine Kursteilnehmerin aufgesprungen war, um seinen Sturz vom Stuhl zu verhindern, ließ der Institutsleiter Heinrichs Vertrag bei nächster Gelegenheit auslaufen.

Vor kurzem rief er mich an und berichtete von einem Besuch bei einem weiteren Schulleiter, der ihn telefonisch mit der Aussicht einer vollen Vertretungsstelle zu einem Gespräch gebeten hatte. Natürlich sei er dieser Einladung schleunigst gefolgt, aber zur Begrüßung habe ihm der Schulleiter mitgeteilt, dass es mit der vollen Vertretungsstelle doch nicht klappen würde. Heinrich sagte, er habe innerlich nur noch lachen können. Was wisse ein Beamter von seiner Situation? Wir überlegten, ob der Meinungswandel des Schulleiters vielleicht damit zusammenhinge, dass er den Schulleiter kontaktiert hatte, unter dem Heinrich derzeit noch arbeitete und mit dem er überkreuz war, schlossen aber auch andere Möglichkeiten nicht aus, die nichts mit Heinrich zu tun hatten. Gleichwohl – Heinrich war deprimiert. Meine Äußerung, ob es für ihn nicht am besten sei, dies oder das zu tun (ich weiß nicht mehr, was ich konkret als am besten zu tun für Heinrich genannt hatte), griff er auf und sagte, am besten sei es für ihn, gar nicht mehr da zu sein. Aus dieser trübseligen Stimmung rettete er sich aber noch im Laufe unseres Telefonats wieder auf sein Gebiet: sich hierfür und dafür zu interessieren, der Wissenschaft und dem Kontakt zu Wissenschaftlern und Künstlern zu obliegen, oder wenigstens Pläne in dieser Hinsicht zu schmieden, und daraus seine Selbstachtung und seinen Stolz zu ziehen. Ich versuchte, ihn auf einen neuen Gedanken zu bringen, dass er seine Erfahrungen und sein Denken schriftlich niederlege. So könne er dem Staub des Alltags einen Glanz abgewinnen. Aber er winkte ab und meinte nur, dass er dafür Ruhe brauche, die er nicht habe. Ich wunderte mich: Heinrich spricht am liebsten von Wissenschaftlern und Künstlern, aber was in diesen Kreisen das größte Renommee einbringt, nämlich Werke zu verfassen, kommt ihm – abgesehen von wenigen kleineren Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften – nicht in den Sinn!

Er sprach von einem Freund in den USA, ein Literaturwissenschaftler, der gestorben sei. Er erwähnte seine japanische Freundin wieder, die auf tragische Weise ums Leben gekommen war. Hätte diese Freundin seinem Leben eine andere Richtung geben können? Hätte sie mäßigend auf ihn wirken können, dass er sich beschieden hätte in eine bürgerliche Existenz? Welche Existenz führte Heinrich jetzt? War es nicht die eines Steppenwolfs, der die bürgerliche Sphäre zugleich sucht und verachtet? Einerseits schimpfte er mit Vorliebe auf die Lehrerschaft und Schulleitungen, die er allesamt der Sattheit und geistigen Unbeweglichkeit bezichtigte, andererseits suchte er sein Heil darin, von irgendeinem Schulleiter angefordert und angestellt zu werden, nach Möglichkeit in unbefristeter Stellung.

Hesses Romanheld Peter Camenzind verlässt sein Heimatdorf mit großen Hoffnungen und kehrt nach einigen Jahren zurück, um ein bescheidenes Leben als Gastwirt zu führen. Darüber hätte ich mich gerne mit Heinrich unterhalten – nicht nur, was ihn selbst betraf, sondern auch mich – aber ich spürte, dass es nicht möglich war. Meine Internatserinnerungen hat er gelesen und darüber einige freundliche Worte gesagt. Auch einen Band mit fiktiven Philosophen-Interviews habe ich ihm zukommen lassen. Ursprünglich hatte ich die Interviewsfür den Unterricht konzipiert und dabei oft auf jene Philosophiegeschichte zurückgegriffen, die Heinrich einst im Internat missbilligt hatte. Auch zu meinem Interview-Band äußerte er sich eher kritisch, zum Beispiel dass ich bei einer Neuauflage dringend über den europäischen Tellerrand hinausschauen und Philosophen aus allen Kontinenten zu Wort kommen lassen müsste.

Übrigens habe ich gerade heute wieder mit Heinrich am Telefon gesprochen. Er berichtete, dass er sich am Goethe-Gymnasium in B., unserer ehemaligen Internatsstadt und seiner Heimatstadt, dem Direktor und dessen Vertreter vorgestellt und ihnen dabei Artikel von sich überreicht hätte über religiöse und physikalische Fragen. Er habe ihnen auch gesagt, dass er gerne ein Deputat zwischen 20 und 26 Wochenstunden hätte und überhaupt eine langfristige berufliche Perspektive suche. Die beiden seien beeindruckt gewesen von den Artikeln, so etwas würden sie nicht von jedem Kandidaten erhalten. Das Gespräch sei insgesamt angenehm verlaufen, er rechne sich gute Chancen aus, im nächsten Schuljahr – und vielleicht darüber hinaus – am Goethe-Gymnasium zu unterrichten. Wird Heinrich recht behalten? Wird er die langen Wanderjahre – fast ein ganzes Berufsleben! – in seiner Heimatstadt beschließen?