Reisen mit ungewissem Ausgang, 3. Teil


Reisen mit ungewissem Ausgang, 3. Teil

Auch am nächsten Morgen regnete es. Die Lagune war grau, der Himmel Wolken verhangen, der Lido im Regennebel verschwunden.

Ich ging hinunter in den Speisesaal, bestellte mir bei der freundlichen jungen Frühstückskellnerin, die, wie ich erfuhr, aus Pakistan stammte, einen Espresso stretto und ein Kännchen heißes Wasser. Und während ich eines dieser wunderbaren cornetto artigianale aß, schaute ich den ankommenden Booten zu, den Menschen, die über schwimmende Stege an Land gingen, einige lachend, andere mit verschlossenen Gesichtern, letztere drückten sich an die Außenscheibe des Restaurants, um, wie ich vermutete, zu beratschlagen, was angesichts des Wetters am besten zu tun sei.

Ich habe niemals zuvor so viele kaputte Regenschirme gesehen wie an diesem Morgen, und herrlich bunt waren sie obendrein.

Später sah ich zwei jungen asiatischen Männern dabei zu, wie sie ohne Eile ihren kleinen Marktstand aufbauten, ihn mit himmelblauen Regenschirmen versahen, auf denen, wenn man sie aufspannte, der Dogenpalast und der Campanile zu sehen war. Alle Schirme waren im Handumdrehen verkauft, an ihre Stelle platzierte man nun venezianische Masken. Ich fragte mich, während ich den ruhigen aber effektiven Geschäften der beiden Männer zusah, wie lange sie wohl schon diesen kleinen Marktstand allmorgendlich aufbauten, ob sie auch aus Pakistan kamen, was sie nach Venedig führte, wie ihr Leben bislang verlief, was es änderte, noch ändern könnte, und ob sie jemals wieder eine Veränderung wollten.

 

Wenden wir uns wieder unserer Venedig-Besucherin M. zu. Nehmen wir an, sie hat die erste Nacht in Venedig gut überstanden, ebenso das Frühstücksbuffet, das zu überstehen in einem von Touristen gut besuchten Hotel gar nicht so einfach ist.

Es erwartet sie ein blendend blauer Tag. Mit neuem Optimismus ausgestattet lässt sie sich durch die Stadt treiben, sie trinkt einen Aperol-Spritz am Campo Santo Stefano und zahlt einen horrenden Preis dafür. Danach folgt sie den Spuren Brunettis, seiner Frau, seiner Kinder. Sie hat einen Plan, samt Reiseführer, dabei, in beiden stecken viele Merkzettel. Schon bald merkt sie, Realität und Beschriebenes stimmen nicht immer überein, was sie ein wenig enttäuscht. Also beschließt sie, Plan und Reiseführer wegzustecken und sich Venedig zu überlassen, wie es sich ihr gerade bietet. Sie verläuft sich, irrt lange umher, bis sie wieder zu Bekanntem zurückfindet. Es ist bereits spät am Nachmittag, als sie sich in der Nähe des Campo San Fantin von einem Senegalesen dazu überreden lässt, eine Handtasche zu kaufen, die ihr gefällt. Stolz über ihren günstigen Erwerb, geht sie weiter, kommt aber nicht weit, denn die Polizei hat den Kauf beobachtet. Den Ärger, den sie für den Rest des Tages hat, die Strafe, die M. bezahlt, nimmt ihr jede Freude an ihrem Neuerwerb, zumal damit ihre Urlaubskasse aufgebraucht ist.

Wenn sie Glück hat, wird sie in einer kleinen unscheinbaren Bar stranden, wo es bezahlbare köstliche venezianische Vorspeisen gibt und einen Prosecco vom Fass, und vielleicht wird sie an diesem Abend doch noch sagen, dass das wahre Venedig gut verborgen liegt und entdeckt werden muss. Vielleicht wird sie aber auch ihren Rückflug herbeisehen und niemals wiederkommen wollen.

 

Nach dem Frühstück nahm ich meinen Computer zur Hand und schrieb all die Dinge, die ich beobachtet und nicht beobachtet hatte, auf.

Später, als die Sonne auch mich nach draußen lockte, streifte ich wie M. durch die Stadt. Doch im Gegensatz zu M. habe ich schon lange keinen Plan mehr dabei.

An der Riva dei Schiavoni beobachtete ich eine alte Frau, die sich mit einem schrecklich gekrümmten Rücken mühselig voran bewegte und bettelte. Die Frau tat mir unendlich leid, ich gab ihr ein paar Münzen, doch staunte ich nicht schlecht, als ich sie am späten Nachmittag in einer Seitengasse des Arsenale wiedersah, wo sie aufgerichtet dastand, ihr Geld zählte und hernach in einer der unzähligen Calli verschwand.

Mit der Sonne begannen die Kellner, Taschenverkäufer, Gondoliere, Murano-Glasanbieter und selbsternannten Führer durch Venedig wieder eifrig ihre Geschichten zu erzählen, derentwegen die Touristen ja doch nach Venedig kommen wie auch ich. Hier ein wenig Übertreibung, dort ein Drama, immer geht es um Liebe und Treue, um Verrat und Intrige, um die Schönheit der Stadt, um ihren Untergang und die Hoffnung, das Venedig sich täglich neu erfindet.. Am Ende war mein Notizblock prall gefüllt mit all diesen Geschichten und mit den Menschen, die in ihnen vorkommen, und später alles im Computer versteckt. Und wie immer wird es nicht nur die Wahrheit sein, die ich gehört habe, aber was spielt das schon für eine Rolle?

 

Szenenwechsel.

Ich sitze im Zug nach Berlin. Mit mir sind Geschäftsreisende unterwegs, einige von ihnen haben, wie ich später erfuhr, kein Arbeitszimmer, sie kennen nur Einsatzorte, das Zugabteil ist die Brücke von einem Einsatzort zum nächsten. Sie sind mit Computer ausgestattet, Hedset, diversen Handys. Niemand von ihnen hat einen Blick für die Häuser, an denen wir vorbeifahren, die Rehe auf einer Waldlichtung, den Fluss zur Rechten, den kurzsichtigen Mann am Bahnhof in Hannover, der offensichtlich Mühe hat, den Fahrplan zu lesen. Sie heben nur kurz den Kopf, wenn sie nach der Fahrkarte gefragt werden oder danach, ob sie etwas aus dem Bordrestaurant wünschen.

In Berlin-Spandau steigt ein junges, offensichtlich sehr verliebtes Paar zu uns ins Abteil. Das Paar küsst sich, es lacht laut und anhaltend, die Welt, so scheint es, steht ihnen offen. Plötzlich schluchzt mein Sitznachbar. Erschrocken sehe ich zu ihm hin, sehe die Einsamkeit in seinem Gesicht. Eine betretende Stille kehrt in unserem Abteil ein, dann werden Taschen hektisch gepackt, der Zug hält am Hauptbahnhof in Berlin.

Als ich aussteige, weiß ich, die besten Geschichten schreibt das Leben selbst, weiß, Handys dienen nicht nur dazu, überall und zu jeder Zeit erreichbar zu sein, sie sind auch hilfreich, um Ehefrauen in Sicherheit zu wiegen, sich bei der oder dem Geliebten anzukündigen, Rechtsberatungen oder therapeutische Gespräche zu führen, abgestürzte Computerprogramme wiederzufinden, Freundschaften aufrecht zu erhalten und Bewerbungsgespräche vorzubereiten, und ich denke noch lange an jenen weinenden Mann, der alleine im Abteil zurückgeblieben ist.

 

Ich fülle Lücken mit meiner Phantasie, lasse aus verschiedenen Personen eine neue entstehen, die zur Hauptperson oder Nebenfigur wird, lasse sie weinen, lachen, aus vermeintlich nichtigem Anlass toben, glücklich oder traurig sein. Ich erfinde Orte an Orten, an denen ich gewesen bin, ich habe es in der Hand, ob die Venedigbesucherin M. am Leben bleibt oder auf dem Grund des Canale Grande für immer verlorengeht.

 

 

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