Allegorien — der Krieg, Teil III
10.01.2024
— Fortsetzung —
Hier unter den Stadtmauern von „Troja“ stand der wütende Krieg und seufzte. Er schrie seine Befehle, hantierte mit Rammen, bediente Schleudern und Katapulte, ließ die Bohlen der Stadttore bersten und schlug Breschen in schier unbezwingbare Mauern. Und doch: Damals, ja damals…, das war noch die „gute alte Zeit“. Aber wie alles Menschliche, so unterlag auch die Menschen-Zeit, die Epoche, beständigem Wandel. Und obschon er als Krieg existent blieb, so spürte er doch seine Veränderung. Nicht etwa, dass er sich um seine Existenz ernsthaft hätte sorgen müssen, noch dass er sich davor tatsächlich hätte fürchten müssen, im Laufe der kulturellen Entwicklung des Menschen wie die alten Gottheiten und Götter-Bilder auf der Müllkippe der Geschichte entsorgt zu werden, obsolet und quasi: inexistent zu werden. Nein. Das nicht. Nur allzu genau wusste der Krieg, dass seine eigene Existenz unauflösbar mit der innersten menschlichen Wirklichkeit verbunden war. Wie alles Dualistische, alles Antipodische, alles Polare, alles Gegen-Sätzliche, einander Wider-Strebende waren „Krieg“ und „Frieden“ zwei Seiten ein und derselben Medaille. Zwar im Denken, im Geist, im Bewusst-Sein und Erleben des Menschen konträr von einander geschieden wie etwa „Nacht“ und „Tag“, wie „Schwarz“ und „Weiß“, wie „das Böse“ und „das Gute“, so lag doch beider Ursprung in der gemeinsamen, die Dualitäten umgreifenden innersten Wirklichkeit des Menschen.
Krieg und Frieden waren — wie alle anderen „Realitäten“ des menschlichen Seins — zunächst nicht mehr als Kategorien im Raum seines Denkens bzw. Bewusstseins; „Bilder“ und „Situationen“, die teils tief im Unterbewusstsein schlummerten, teils ins Tagesbewusstsein aufstiegen, um dort „Gestalt“ anzunehmen. Erst diese „Form“, diese „Gestalt“, konnte als komplexer Gedankengang aufgrund des menschlichen Tuns Realität-in-der-Welt annehmen. Ohne des Menschen Tun, ohne seine Über-Setzung aus der inneren Wirklichkeit ins „Werk“, ins „Hand-Werk“ eines äußeren Tuns, waren all diese Schreckens- bzw. Friedens-Bildnisse und Gestalten, als ob sie nicht wären. Nichts als bloße Phantasmagorien; nichts anderes als Fiktionen — Wahn-Bilder, Wunsch-Bilder. Der Krieg wusste dies; der Frieden fürchtete dies…— Die innerste Wirklichkeit des Menschen — seine Abgründe wie auch existentiellen Gründe — waren die Bedingung der Möglichkeit, woraus sich Wort und Gedanke, Wunsch und Vorstellung, Wollen und Wille zur Tat formten, ent-falteten, ent-wickelten und ihre jeweilige Gestalt annahmen. Aber verheerender noch als der Wille zur Tat, war des Menschen Willen zur Macht. War im Prozess des Werdens der Gedanke geboren, die jeweilige Überzeugung verfestigt, so benötigten alle „Schicksals-Mächte“ noch immer des Menschen Hände, um sich „ins Werk setzen“ zu können. Denn erst durch die Transformation in-die-Tat wird das erdachte Gute zum konkreten „Guten“ in-der-Welt, das erdachte Schlechte zu etwas Schlechtem, erdachte Liebe zu realer Liebe, erdachter Hass zu gelebtem Hass, erdachter Frieden zu tatsächlichem Frieden, und gewollter Krieg zu realem Krieg. Der Mensch ist das einzige Lebe-Wesen, in dessen Existenz ebenjener Schnitt-Punkt von theoretischem Gedanken und praktischer Tat liegt, der jenen „Ort“ begründet, an dem aus innerer Wirklichkeit planmäßiges, äußeres Tun und aus diesem Tun — Kraft seiner Hände — die Realität in-der-Welt aktiv und bewusst gestaltet wird. Des Menschen Welt-Veränderung und seine Welt-Gestaltung geschieht planmäßig, absichtlich, zielgerichtet, zweckgebunden.
Anders bei der „Physis“, als dem Werden aus sich selbst zu sich selbst, sowie der „Natur“, als das Werden aus einem Anderen. Zwar gestalten auch sie die reale Welt, etwa indem sie die belebte Natur und alles Dasein kontinuierlich umformen, umgestalten, an die realen Gegebenheiten „vor Ort“ bestmöglich anpassen. Aber ihr Prozedere, ihre Ent-Faltung und Ent-Wicklung, vollzieht sich gleichsam absichtslos, unbewusst, zweckfrei. Alles Dasein unterliegt ständigem Wandel; und selbst Gebirge zerrinnen zu Sand und Staub, ja selbst Atome zerfallen. Jedoch: Weder das unbelebte Dasein noch die belebte Natur erkennen ihren eigenen „télos“, ihr „spezifisches Ziel“, im unabschließbaren Raum der Evolution, da sie weder als Individuum noch als Art im Ganzen sich selbst reflektieren können. Sowohl unbelebtes Dasein als auch belebte Natur kennen keinerlei menschliche Kategorien wie etwa „Krieg“ oder „Frieden“, noch kennen sie Kategorien aus dem Bereich der Tugenden wie etwa „Gerechtigkeit“, „Klugheit“, „Barmherzigkeit“, etc.pp.; deshalb, weil sie gänzlich frei von irgendwelchen Kategorien sind , handeln sie auch nicht aus Berechnung. Es ist ein schäbiger Anthropomorphismus, womit der Mensch seine Eigenschaften den Tieren als deren Verhaltensweisen zuschreibt, wenn er z.B. „Bestien“ und „Monster“ kreiert — etwa, indem er behauptet, dass der Hai und der Wolf „grausam“ oder „mordgierig“ wären oder „aggressiv“ sind; oder wenn er die staatenbildenden Insekten voller Bewunderung als „fleißig“, „emsig“, „sozial“, „planmäßig“, u.ä.m. beschreibt. Alles menschliche „Attribute“ im Reich der wilden Tiere… Die Tier-Welt selbst kennt weder Hass noch kennt sie Mißgunst, weder ist sie grausam noch gewährt sie Gnade. Zwar tötet auch sie, aber sie tötet, um zu überleben — oder aber, um die eigene Art zu erhalten. Seien es nun Löwen oder andere „Raub-Tiere“; seien es Insekten. Sie alle töten: Instinkt-geleitet; Instinkt-gesichert — jedoch völlig frei von irgendwelchen Plänen, Zwecken, Machenschaften und Rankünen. Anders der Mensch: Der Mensch mordet — er, der aus der Enge seiner Instinkte herausgetreten ist. Er, der sein tierisch-natürliches Gefängnis vor Zeiten verlassen hat, und nun völlig frei gegen-über seinen tierischen Instinkten steht. Er, der Mensch, mordet ohne irgendeine existentielle Notwendigkeit. Der Mensch, das „frei-gestellte“ Tier… Zumeist mordet er aus Berechnung, aus (Hab-)Gier oder, im Krieg, aus Überzeugung. Plan-mäßig. Ziel-sicher. Zweck-orientiert. Seien seine Gründe nun politisch-ideologisch oder aber religiös-konfessionell motiviert. Denn der Mensch ist die einzige Spezies im Tierreich, die aus Motiven heraus und unter planmäßiger Verfolgung von Zwecken Ziel-sicher zu handeln vermag . Der Mensch mordet…— Das heißt: Er verfolgt, außer im Affekt, zuerst einen konkreten Mord-Plan mit einem konkreten Tötungs-Ziel, das er anschließend detailgetreu in der Tat umsetzt.
Kennt die Tier-Welt als Natur weder Hass noch Mißgunst, so kennt die Pflanzen-Welt weder Tag noch Nacht noch sonstige Dualismen. Zwar selbst ohne Kategorien, jedoch nicht Wert-los, folgen Tiere und Pflanzen ihrem eigenen Lebens-Weg in Zeit und Raum, gemäß ihrer natürlichen Bestimmung. Wert-frei gehören Flora und Fauna nur sich selbst, selbst dann, wenn der Mensch in eigener Macht-Vollkommenheit über Beide verfügt — etwa unter seinen wirtschaftlichen Aspekten in den Kategorien der „Massentierhaltung“ oder der „Agrarindustrie“. Oder wenn er als „homo faber“ in seiner Genindustrie Tiere und Pflanzen neu zu erfinden sucht… Der Mensch als „Macher“, als Macht-Haber, als technisch versierter „homo creator“, ja als „Pantokrator“…—
Der Krieg schüttelte mißmutig seine blutige Löwenmähne und brummte verärgert in sich hinein. Erst der Mensch, diese seltsamste aller Spezies, der sich selbst im Laufe seiner Entwicklung euphemisch als „sapiens“, als „weise“, kenn-zeichnete, der seine Maßstäbe als Muster-gültig und einzig richtig auf alles Da-Sein in der Welt ausdehnte, der seine Werte, seine Wert-Urteile allem Seienden als „wesentlich“ und „wahr“ zufügte, beifügte, ja zu Grunde legte — den seienden Dinge, dass sie sind, den nichtseienden, dass sie nicht sind (vgl. Protagoras). Erst der Mensch, dieses „noch nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche), der seine Perspektiven, der seinen eigenen Dualismus, allem Denken, allem Dasein, allem Sein und aller Realität als „Wesen“ unterstellte, der sich selbst bald als „die Krone der Schöpfung“ wähnte, dann wieder als „homo faber“ aus ebendiesem Halt heraus-trat, indem er die Schöpfung und das Paradies floh. Der Mensch, dieses einzige Tier, das nicht nur überleben, sondern in unstillbarer Neugier wissen wollte, geradezu besessen war von Wissens-Durst; der sich seit Urzeiten deutende Mythen erfand, um sich sodann immer wieder an den Früchten seiner eigenen, erklärenden Wissenschaften zu nähren; der Mensch, der so gerne im Naturzustand der Tiere und ihrer Unschuld geblieben wäre, dann aber doch immer wieder in die Realität der eigenen Wissens-Schuld hineingeriet. Wissend zwar — zugleich aber völlig Verantwortungs-los sein Leben zu genießen suchte, seine eigene Schuld nachträglich gerne dubiosen, dunklen „Schicksals-Mächten“ zuschrieb. Der Mensch, dieser „Sphinx“, rückwärts schauend in die eigene Vergangenheit seiner Mensch-Werdung und zugleich vorausdenkend seine chancenreiche Zukunft planend, der immer beides ineins sein wollte: instinkt-gesichert und rational handelnd, verankert im Da-Sein und frei-gesetzt in eigener Vernunft, dauerhaft im Glück beheimatet, als Sterblicher den Unsterblichen gleich und gleichzeitig doch so flüchtig, wie die wallenden Morgennebel, die frühmorgens über taubenetzte Auenlandschaften zogen und von denen bereits am Mittag keinerlei Spur mehr übrig blieb. Als „homo sapiens“ weder „Fisch noch Fleisch“, sondern ein einziger hochkomplexer dualistischer, ambivalenter, rätselhater Makrokosmos.
Erst der Mensch, der sich — im Gegensatz zum Tier — die totale Freiheit und in dieser sich selbst ad infinitum immer wieder „neu erfand“, der sich als „homo technicus“, als „der Fortschrittliche“, aus der Geborgenheit der Natur kontinuierlich Schritt um Schritt weiter ent-fernte und nun als „Homo Digitalis“, technisch gedacht, bereits als Unsterblicher wähnte. Erst dieser Mensch brachte gezielten Mord und systematische Vernichtung als „Krieg“ in-die-Welt: u.z. als Realität der Welt. Seiner Welt. Er, der Weltenschöpfer. Er, der einzige Welten-Herrscher. Er, der Erfinder seines eigenen Welten-Raumes… Denn es sind seine Kategorien im Denken, die durch die folgerichtige Tat zur Realität-in-der-Welt werden…— Der Mensch, dieses rätselhafte, stets unverstandene und ewig unverstehbare „Wesen“, als Welten-Erfinder und Realitäten-Gestalter: Geist-Welten, Wort-Welten, Begriffs-Welten, Gedanken-Welten, Phantasie-Welten, visionäre Welten, reale Welten, digitale Welten…—
— Fortsetzung —