Allegorien — der Krieg, Teil IV


Allegorien — der Krieg, Teil IV

15.01.2024

— Fortsetzung —

 

Der Krieg schnaubte verächtlich bei diesen Betrachtungen. Zwar in technischen  Dingen und Erfindungen brillant, dort gelangen dem Menschen unvorstellbare Höchstleistungen — so etwa die technische Entwicklung von einfachsten „optischen Linsen“ hin zum Rasterelektronenmikroskop zwecks Erforschung des Kleinsten im Kleinen; oder von einfachen Fernrohren hin zu hochkomplexen Weltraumteleskopen wie „Hubble“ oder „James Webb“ zwecks Erforschung des Fernsten im Fernen — so war und blieb der Mensch doch ein einziges Mangel-Wesen, erst recht hinsichtlich seiner Selbst-Erkenntnis. Im „gnōthi seautón!“, diesem uralten Imperativ des „erkenne Dich selbst!“, war die menschliche Spezies ein totaler Ver-Sager. Denn grundsätzlich versagte sich der Mensch der Auseinander-Setzung mit seiner „inneren Wirklichkeit“ ebenso, wie der Erforschung seines „Wesens“, seiner „Existenz“. Prinzipiell verneinte er seinen Auftrag innerhalb des Lebens, innerhalb der Natur, noch akzeptierte er seine spezifische Aufgabe hinsichtlich jener Welt, die er bereits bei seiner Mensch-Werdung vorfand, deren Teil er unentrinnbar war, ist und bleiben würde und die er, auf seinen  Begriff gebracht, ganz einfach „Umwelt“, weitaus seltener jedoch „Mitwelt“, nannte. Er, der Mensch, ein Mikrokosmos im Makrokosmos, fragte Grund-sätzlich weder nach dem „Woher“ seines Kommens, noch nach dem „Wohin“ seines Gehens. Instinktiv wich der Mensch diesen wesentlichen Fragen, diesen „existentiellen Fragen“, aus: als Individuum ebenso wie als Menschheit im Ganzen. Hierin war er dem Tier erschreckend gleich — geblieben.

Der Mensch, so wollte es dem Krieg als Betrachtendem scheinen, kannte seit seiner Mensch-Werdung vor Millionen von Jahren nur eine einzige Bewegungs-Richtung: Fort, immer weiter fort: vom Baum und der Savanne; fort, vom Feuer und vom Herd, vom Heim und der Heimat; fort, von Ackerbau und Viehzucht; fort, von Schmelztiegeln und Brennöfen; fort, von der Realität und der analogen Welt; fort, immer weiter fort, von seinem einzig-artigen Auftrag als Lebens-Wirklichkeit und „Existenz“…— Stets schien in der fernsten Ferne das gesuchte Heil, das „Gelobte Land“, als lukratives, als verheißungsvolles Ziel zu liegen: hinter  dem nächsten Fortschritt, hinter dem nächsten  technischen Horizont, hinter dem nächsten Quantensprung seiner Entwicklungs-Geschichte — tatsächlich jedoch bahnte er sich seinen Fortschritts-Weg stets tiefer hinein in das Dickicht der natürlichen wie auch der menschlichen Entfremdung. Der Mensch war auf dem von ihm eingeschlagenen Fort-Schritts-Weg sich selbst ein „Fremder unter Fremden“ geworden. Ein unbehauster, heimatloser Fremdling. Sein erdachtes oder erfundenes Ziel lag stets „voraus“ in einem unbestimmten „Irgendwo“ des Nirgendwo. Der Mensch als evolutionärer Pfad-Finder — ein sich selbst entfremdetes Tier… Aber unumkehrbar und unaufhaltbar trieb ihn irgendetwas — war es seine schiere Neugier, war es sein unstillbarer Wissensdurst, war es pure Angst? — immer weiter fort. Der Mensch, ein Getriebener, ein Vertriebener… Fort, nur fort, immer weiter und weiter und weiter… Nur immer fort. Ein Existenz-Flüchter in zusehends flüchtiger werdender Existenz. Eine Existenz, so flüchtig wie ein Gas, ein Nebel, seine Binär-Formeln von Bits und Bytes. Dabei schien sein  Flucht- und Heils-Plan prinzipiell zu lauten: Mensch-Werdung ist Fortschritt auf rein technischem Terrain. Denn in seinen „Visionen“ vom eigenen Fort-Schritt griff dieser seltsame Mensch zwar immer wieder nach den Sternen, wähnte sich stets als „Wanderer zu kosmischen Welten“, fernab der Erde, wähnte sich auch als „Pionier und Besiedler des Mondes“, oder aber als „Kolonie-Gründer auf dem Mars“. Ja, dieser seltsame Mensch griff, technisch gesehen, sogar nach dem Rande von Raum und Zeit — während er mit seinen anthropologischen Stiefeln, seinen „existentiellen Wurzeln“, doch noch immer tief im Morast seiner frühzeitlichen Entstehung stecken geblieben war. Eigentlich ein gänzlich unnützes Tier im Horizont der innerweltlichen Evolution; bestenfalls ein genetischer Unfall, eine evolutionäre Entgleisung, ein zwei-gespaltener Mutant…—

 

Der Krieg wusste all dies nur zu genau. Anderer-seits, und auch das wusste er, würde er des Menschen Hände auch zukünftig benötigten, um sich selbst ausgestalten, ja ausleben zu können. Und allen anderen (Stief-)Geschwistern erging es ebenso…— Sie alle waren in gewisser Hinsicht Wesens-Merkmale, anthropologische Konstanten, menschlichen Seins: Der Krieg und der Frieden, der Hass / die Aggression und die Liebe, die Lüge und die Wahrheit, tyrannische Unterdrückung und demokratische Gerechtigkeit, die Diktatur des Fanatismus‘ ebenso wie die Freiheit der Demokratie. Und solange es Menschen geben würde, würde auch ihr eigener Fortbestand gesichert sein. Mochten selbst Gottheiten und Götter im Kulturkreis des Menschen wie Moden kommen und gehen — der Krieg kam mit dem Menschen, um als Realität in der Welt zu bleiben. Und ebenso der Frieden.

Der Mensch, und nicht etwa ein fernes, fremdes, meta-physisches „Schicksal“, bestimmte der Welten-Lauf. Und nicht erst seit dem sog. „Anthropozän“ drückte der Mensch der Natur und der sie umgreifenden Welt seinen Stempel auf. Seine spezifische innere Wirklichkeit, sein „dualistischer Komos“, dieses eklatante „existentielle Desaster“, waren Ursprung und Quell seiner Taten und damit ineins, seiner Welt-Gestaltung als Realität… Der Krieg wusste das.

 

Aus seinen Augenwinkeln sah der Krieg zwei schemenhafte Gestalten, Schatten gleich, inmitten des Schlachtengetümmels auf die Stadttore zuschleichen. „He ihr zwei, Parole!! Wer seid ihr und was habt ihr hier draußen zu suchen…?“, herrschte der Krieg die beiden über das ohrenbetäubende Schlachtengetöse hinweg wütend an.

„Wir sind’s“, kam die wispernde Antwort, „deine Schwester, die Überzeugung, sowie unser Bruder, der Fanatismus.“

„Was sucht ihr zur Unzeit hier draußen vor den Festungsmauern von Ilion?“, wollte der Krieg wissen.

„Wir sind auf dem Weg zu den Menschen vor und hinter den Stadttoren! Unser Auftrag lautet, dass wir uns in die Herzen der Menschen einschleichen sollen“, sagte die alles Denken bezwingende Überzeugung. Und an ihre Fersen geheftet, folgten lautlos die spukhaften Schatten der Verschlagenheit, der List, des Verrates, der Bestechung, des Zweifels, der Lüge, der Propaganda. Sie alle würden in den kommenden Stunden ihre wertvolle Arbeit beinahe unmerklich, mit äußerster Diskretion, verrichten. Still, leise, toxisch, tödlich. Dies-seits wie jen-seits der Mauern. Der Krieg wusste ihre Unterstützung durchaus zu schätzen. Wie leicht fielen doch als unbezwingbar geltende Festen und Städte, das zeigte ein flüchtiger Blick in Mythologie und Geschichte, durch Verschlagenheit, Verrat oder List…

„So seid mir willkommen, Kampfgenossen!“, jubelte der Krieg.

„Gerne helfen wir dir, mein Bruder, um dein Werk zu vollenden und Illion zu vernichten“, grüßte die Überzeugung zurück und fügte en passant hinzu: „Du weißt wohl: meine Augen sehen noch vorzüglich, selbst in der finstersten Dunkelheit menschlicher Abgründe. Und er, der blindmachende Fanatismus, schirmt und schützt mich derweil vor allen Zugriffen und Angriffen der menschlichen Vernunft sowie des menschlichen Verstandes. So führe ich jenen in die Klüfte der Seelen, während jener mich durch seine für die Vernunft nicht erhellbare und für den Verstand undurchschaubare Blindheit camoufliert und schützt. Du, mein Bruder Krieg, erinnerst Dich gewiss noch an die allseits wachsamen Wächter Athens: die berühmten „Eulen der Athene“. Ihre scharfsichtigen Augen erspähten selbst im Zwielicht jegliche Bedrohung und ihre weitsichtige Klugheit erkannte noch in völliger Dunkelheit eine heraufziehende Gefahr; ihr spähender Rundum-Blick vermochte ein Gesichtsfeld von 360° zu erkunden. Gleichzeitig vermochten ihre äußerst empfindlichen Ohren noch das leiseste Rascheln treffsicher und punktgenau zu lokalisieren, sodass sich kein Unheil in die Stadt einschleichen konnte. Allein, all dies nutzte den Athenern nichts, denn meine Helfershelfer — der Fanatismus, das Gerücht, die Verschlagenheit, die Lüge, die Ranküne, die Intrige sowie der Verrat — kamen gleichsam gestalt- und lautlos als geflügelte Worte, als bezwingende Gedanken, als unruhige Träume, daher. So misslang es selbst den schärfsten Sinnen, uns zu erlauschen, uns zu orten, uns zu entdecken. Gefahrlos und unentdeckt schlichen wir uns in die Herzen der Athener Bürgerinnen und Bürger, sobald Hypnos und Morpheus die Menschen umarmten — und besiegelten dort, in den Herzen der Menschen, den Niedergang Athens… Denn auf unser heimtückisches Betreiben hin, verfielen allmählich Sitte und Anstand, Gerechtigkeit und Tugend, die heiligen Gesetze der Stadt zumal. Denke doch nur an den Tod des Sokrates! Welch köstlichen Triumpf feierten damals die Verleumdung und die Lüge über die Wahrheit!! Und eine einmal überzeugte, fanatische Seele bleibt auch zukünftig jedem noch so klugen Argument verschlossen. Was also nutzt es der Vernunft und dem Verstand „Licht der Welt“ zu sein, wenn der Fanatismus und seine Verwandten die menschlichen Seelen nach und nach erblinden lassen, sie in die Finsternis treiben, um sie dort dauerhaft an „die Leidenschaft zur Nacht“ zu ketten…? Aber nicht nur einzelne Personen oder Städte, sondern ganze Völkerschaften teilten und teilen noch immer dieses Schicksal einer fanatischen Blendung. Bei Nacht erfüllen wir lautlos und schemenhaft unseren Auftrag, während die Menschen ahnungslos in den Armen des Schlafes sowie des Traumes schlummern… Und bei Tage, nachdem der Mensch erwacht ist, da schleichen wir uns in Gestalt der polemischen Suggestion, des mantraartig wiederholten Gerüchtes, der subversiven Manipulation, der hinterhältigen Intrige, der verleumderischen Diffamierung, des zersetzenden Zweifels, wie auch der all unsere Anstrengungen fokussierenden Angst, hinter die Pforten des Bewusstseins. Dort schlagen wir die Toren sodann mit Unverstand, geißeln Klugheit und Wahrheit mit Hass und Hetze — erinnere Dich doch nur an all die „falschen Propheten“ der antiken Israeliten, an die Päpste, die zu den Kreuzzügen aufriefen, an all die Dschihadisten heutiger Prägung, oder aber an all jene Politiker, die als Tyrannen, Diktatoren und Autokraten zu jeder Zeit, selbst zu fanatischen Blinden mutiert, den einäugigen Vielen ihren Macht-Willen aufzwangen. Und die Vernünftigen, die Klugen, die Warnenden, Mahnenden und Wachsamen, die ihre Stimmen gegen uns zu erheben wagen, sie alle werden von uns in coram publico so lange verlacht, verhöhnt, verspottet, verächtlich gemacht, systematisch diskreditiert, einzelne auch mundtot gemacht bzw. liquidiert, bis sie zuletzt über die Blindheit der Vielen stürzen!“

„Das klingt nach einem wohlüberlegten Plan, meine Schwester. So möge euer Vorhaben gelingen! Wohlan denn, frisch ans Werk meine Geschwister!!“, frohlockte der Krieg und wandte sich sofort wieder mit neuer Zuversicht und doppelter Kraft dem Kampfgeschehen zu.

„He, ihr da vorne…! Den Rammbock mehr zur Mitte des Stadttores ausrichten, sonst werden wir noch in zehn Jahren gegen die Pforten Ilions anstürmen müssen!!“, brüllte der Krieg seine Söldner-Truppen an und ließ seine Geißel niedersausen, dass alle in panischer Angst zusammenzuckten und ihre Anstrengungen zum Durchbruch verdoppelten. Und an den zuhörenden Betrachter der Szenerie gewandt: „Ich muss mich da gerade einmal selbst drum kümmern, sonst wird das nichts mit der Eroberung von Ilions Demokratie… Du kannst Dich ja inzwischen mit meinem älteren Bruder, dem Tod, weiter unterhalten…“ Ohne weiteres Aufhebens ließ der Krieg den verunsicherten Betrachter inmitten des Schlachtengetümmels stehen und stapfte auf seinen Teufelsklauen davon…