Wo Literatur entsteht


Wo Literatur entsteht

© Brigitta Dewald-Koch 2024

 Wo schreiben Sie für gewöhnlich? Wie lange am Tag? Schreiben Sie an einem stillen Ort oder bevorzugen Sie eine anregende Umgebung? Wie finden Sie Ihre Schreibideen, wie das Personal Ihrer Handlungen? Haben Sie das, worüber Sie schreiben, persönlich erlebt oder ist alles erfunden? Diese und ähnliche Fragen werden mir in meinen Lesungen oft gestellt, ich nehme sie zum Anlass, mich einmal grundsätzlicher mit ihnen zu befassen.

Meine Schreibzeit war über viele Jahre sehr knapp bemessen, weswegen ich geschrieben habe, wann und wo immer mir das möglich gewesen ist. An Abenden, Wochenenden, in Zügen oder Hotelzimmern, auf öffentlichen Plätzen im Sommer, in Cafés im Winter. Und natürlich schreibe ich auch in meinem Arbeitszimmer.

Mein Arbeitszimmer ist nicht sehr groß, es ist ein Bücher- und Bilderzimmer mit einem Fenster, das mir einen Blick in Nachbarschaftsgärten erlaubt. Auf rote rheinhessische Hausdächer, die leuchten, wenn die Sonne ockerfarben darüber hinwegwandert, und die im Winter etwas Magisches haben, wenn kalter Nebel auf sie niederfällt und Rauch zitternd aus schmalen Schornsteigen aufsteigt.

In letzten Sommer hatte es sich eine Amsel zur Gewohnheit gemacht, am späten Nachmittag auf der Dachrinne des gegenüberliegenden Hauses zu sitzen und lautstark zu singen. Hin und wieder gesellte sich eine Wildtaube dazu und gurrte dissonant, was die Amsel veranlasste, ihren Gesang noch zu steigern, wobei sie mir durchaus ein wenig überheblich daherkam. Ich überlegte, ob das schauerliche Gurren der Taube eine Mahnung vor genau dieser Überheblichkeit sein konnte und im nächsten Moment sah ich vor meinen Augen das erste Bild einer Handlung, die angetrieben wurde von Gegensätzen, die aufeinanderprallen …

Sie können sich leicht vorstellen, dass es zuweilen durchaus verlockender ist, aus dem Fenster zu schauen und zu beobachten, was draußen passiert, als an Wörtern und Sätzen zu feilen, Gedanken eine logische Richtung zu geben und dabei auf gute Eingebungen zu hoffen, weswegen ich zuweilen ernsthafter an meinem Schreibtisch arbeite, wenn es draußen dunkel ist und still. Dann sehe ich die Szenen meiner Geschichten ungestörter, spüre intensiver die Wirkung von Worten und Sätzen, der handelnden Personen, höre ihre Unzufriedenheit über die ihnen zugedachten Rollen. Wir spielen zusammen Varianten dieser Rollen durch, wir streiten, wir einigen uns.

Es gibt für mich Lieblings- und Gelegenheitsorte, an denen ich schreibe – wie vermutlich für jede Autorin/jeden Autor –, und es gibt Schreiborte, die von der Handlung bestimmt werden (eines meiner Bücher beginnt in der Bretagne und endet in Frankfurt, eines ist auf einer Nordseeinsel angesiedelt, ein anderes wiederum hauptsächlich in München). Ein kleines Café an Regentagen, ein Hotelzimmer, das ich mir bei der Buchung ganz anders vorgestellt hatte, der überfüllte Warteraum beim Arzt, die Gespräche dort, können Auslöser für eine Geschichte sein oder ihr die schon lange gesuchte Wendung geben. Ebenso eine Bank am Fluss, ein Haus am See, ein beliebter oder verlassen wirkender Platz in einer Stadt, ein flüchtiger Blick aus dem Abteilfenster eines fahrenden Zuges, einer Straßenbahn, eines Taxis, das nächtliche Ankommen in einer fremden Stadt …

Mein Arbeitszimmer, um darauf noch einmal zurückzukommen, ist also eher der Ort, an den ich mit all den Ideen, Eindrücken, Bildern, die ich andernorts gesammelt habe, zurückkehre, um sie, einem Bilderhauer, Maler oder Komponisten ähnlich, zu bearbeiten, was in meinem Fall heißt, eine Sprache und einen Erzählrythmus zu finden, die meine Geschichte aussagekräftig und spannend macht und eine Leserschaft dazu motiviert, in das von mir erzählte Leben auf Zeit eintauchen zu wollen.

Zusammenfassend stelle ich also fest: Ich beobachte und ziehe meine schriftstellerischen Schlüsse daraus. Ich beobachte Frauen und Männer, Eltern und Kinder, Geschwister, Paare, FreundInnen, Geschäftspartner, alte und junge Menschen, sehe, wie sie einander begegnen, miteinander sprechen oder es nicht tun. Ich sehe ihr Lächeln aus Unsicherheit, ein Zögern, das Bewegungen langsamer werden lässt, ich beobachte, wie ein Glas, eine Tasse, ein Messer krampfhaft in der Hand gehalten wird oder zur Bekräftigung von Gesagtem hart auf dem Tisch landet. Ich höre, wie etwas versprochen oder ein Versprechen widerrufen wird, sehe, wie man heimlich auf die Uhr schaut, während man gleichzeitig beteuert, alle Zeit der Welt zu haben. Ich betrachte die Blumen, die zu einem Rendezvous mitgebracht werden und überlege mir, was die Wahl des einfachen oder üppigen Straußes veranlasst hat, was den Ort des Treffens, ich betrachte mir die Kleidung der sich Treffenden und frage mich, ob sie bewusst oder zufällig gewählt wurde, ich beobachte die Gesten, die ausgetauscht werden oder ins Leere laufen, ich mache mir Gedanken zu einem Parfüm, das mir um die Nase weht.

Aus diesen Beobachtungen, der Umgebung, in der sie stattfinden, entstehen meine Geschichten und das Personal, das die Handlung bestimmt, entstehen die Konflikte, mit denen die Handelnden sich auseinandersetzen müssen. Ich lasse mein Personal Hochs und Tiefs erleben, sie in Tragödien hineinrennen, manche kommen damit klar, andere wiederum nicht. Ich erlaube dem Personal meiner Geschichten ehrlich zu sein oder sich lügend durchs Leben zu schlagen, nachsichtig oder unnachgiebig zu sein. Ich schicke sie in die Zukunft oder zurück in die Vergangenheit, um die Gegenwart besser begreifen zu können, lasse sie an einer geliebten Person verzweifeln oder wachsen. Ich stelle mir die Freunde und Feinde des Personals meiner Geschichten vor, ebenso, was sie einsam oder glücklich macht und welche Existenznöte oder andere Gefahren sie bedrängen, und ich frage mich, was das alles mit ihnen und mit ihrem Leben macht.

Ein konkretes Beispiel:

In diesem Frühjahr bin ich zum wiederholten Male in Venedig gewesen. Venedig ist ein guter Ort, um Stimmungen einzufangen, glückliche wie auch weniger glückliche. Venedig ist ein Ort der Farben, der leuchtenden und der tristen, ein Ort der Gegensätze wie hell und dunkel, Tod und Leben, Beharrung und Entwicklung, Stolz und Demütigung, oben und unten, laut und leise, groß und klein, Ebbe und Flut etc.

Als ich an jenem letzten Sonntag im März in Venedig ankam, nieselte es, und es war deutlich kühler als ich dass aufgrund früherer Besuche um die gleiche Jahreszeit erwartet hatte. Hinzu kam, mein Koffer tauchte am Gepäckband nicht auf, und als ich ihn nach einigem Suchen schließlich mit der Hilfe einer Italienerin auf einem anderen Gepäckband entdeckte, war das Boot, mit dem ich in die Stadt fahren wollte, längst weg. Ich musste das nächste Boot abwarten. Mit mir wartete eine Einheimische, die mit ihrem Mann telefonierte. Sie erzählte ihm von ihrer Arbeit am Flughafen, sie fühlte sich an ihrem Arbeitsplatz von jemandem dort schickaniert, sie sagte, dass sie froh sei, in gut einer Stunde zu Hause zu sein. Sie freute sich auf einen Film, den sie im Fernsehen schauen wollte. Ihr Mann sagte wohl, er habe noch nichts gegessen, er warte auf sie, darauf, dass sie ihm etwas kochen würde, denn sie blaffte ins Telefon, ein paar Spaghetti könne er doch selbst noch hinkriegen. Ich sah auf das schwarze, glänzende Wasser, ich sah den Nebel über Venedig und mir kam eine erste Idee.

Aus irgendeinem Grund fuhr der Wasserbus, der dann kam, in Venedig an der Anlegestelle Arsenale vorbei, sodass ich an San Zaccaria  aussteigen musste, was hieß, meinen Koffer durch den stärker gewordenen Regen und über vier Brücken – hinauf und wieder hinunter – zu tragen, ehe ich mein Hotel erreichte.

Es war inzwischen kurz nach zehn. Die Gassen Venedigs wirkten verlassen, die rosafarbenen Lampen entlang der Riva Schiavoni wirkten in Regen und Nebel wie ermattet, die Restaurants in Sichtweite hatten alle bereits geschlossen.

Ich frage Sie, bietet diese Ankunft in Venedig nicht bereits eine Fülle von Material, aus der sich eine spannende Geschichte machen lässt?

Fangen wir also glaich damit an, exemplarisch eine kurze Handlung über eine Ankunft in Venedig zu schreiben. Sie könnte Teil einer Erzählung oder eines Kapitels eines Roman sein:

Unsere Protagonistin ist eine Frau, nennen wir sie M.

M. hat viel Schönes über Venedig gelesen, gehört und in Filmen gesehen. Ihr größter Wunsch ist es, diese Stadt einmal selbst kennenzulernen und so kommt sie Ende März nach Venedig. Im Reisebüro hatte man ihr gesagt, im März sei es in der Stadt schon recht frühlingshaft, in allem entspannter und nicht so teuer wie im Sommer.

Es ist bereits dunkel, als Ms. Flugzeug auf dem Flughafen Marco Polo landet. Nehmen wir an, sie ist aus München angereist, ihr Flug sollte ursprünglich am frühen Morgen stattfinden, wurde dann aber mehrfach wegen des schlechten Wetters in München und in den Alpen verschoben. M., die nicht mehr damit gerechnet hatte, nach Venedig zu kommen, ist also trotz aller Strapazen und der späten Ankunft euphorisch und glücklich, endlich der Stadt ihrer Träume nahe zu sein.

Der Wasserbus bringt sie vom Flughafen in die Stadt. An der Anlegestelle San Marco steigt sie aus, so hat man es ihr im Reisebüro geraten. Sie geht über den schmalen, schwankenden Steg an Land, sieht sich um. Von ein paar spärlichen Lampen abgesehen, ist es dunkel entlang der Riva Schiavoni, außerdem hat ein feiner Nieselregen eingesetzt. M. hat nur eine ungefähre Vorstellung davon, in welche Richtung sie gehen muss, um zu ihrem Hotel zu kommen. Sie hat sich zwar zu Hause anhand ihrer Unterlagen genauestens eingeprägt, wie sie gehen muss, aber nun ist es dunkel, sie ist müde, aufgeregt, da sieht doch alles ganz anders aus als wenn man zu Hause am Küchentisch einen Reiseführer duchblättert. Und ihre Unterlagen sind im Koffer, den sie des Regen wegens nicht öffnen möchte. M. stellt ihren Koffer ab, versucht sich zu erinnern, zu orientieren, aber das Nachdenken verwirrt sie nur noch mehr; hilfesuchend sieht sie sich um.

Eine andere Person, nennen wir sie Z., beobachtet M. seit sie das Boot verlassen hat. Z. kennt solche Situationen, er weiß, was jetzt in M. vorgeht. Im Schutz eines Hauseingangs verborgen, beobachtet er M. noch eine kurze Weile, dann löst er sich aus dem Dunkel des Hauses, schlendert über die Riva Schiavoni und auf M. zu. Er betrachtet ihren Koffer, dann sie, er lächelt charmant, er fragt M., ob er ihr irgendwie behilflich sein kann. M. erklärt ihm, sie sei gerade in Venedig angekommen und zum ersten Mal hier, ihr Hotel müsse irgendwo in der Nähe sein, aber sie wisse nicht genau, wie sie dorthin komme. Sie habe nicht gedacht, dass es in Venedig am Abend dermaßen dunkel sei. M. lacht nervös, sie nennt Z. den Namen ihres Hotels. Z. versichert ihr, es gebe keinen Grund zur Sorge, er kenne ihr Hotel, es sei tatsächlich nicht weit entfernt. Etwas Beruhigendes geht von seiner Stimme, seiner ganzen Art aus, M. fragt ihn, ob er Venezianer sei, woraufhin Z. entgegnet, er lebe seit einiger Zeit in der Stadt, studiere hier Kunst und arbeite nebenbei in einer Galleria dell‘ Arte, von dort komme er gerade. Er gibt M. eine Karte der Galleria, in der er arbeitet und lädt sie ein, ihn in den nächsten Tagen einmal dort zu besuchen. Dann erklärt er M. den Weg zum Hotel, sagt aber auch, man habe eigentlich den gleichen Weg, wenn sie wolle, nähme er ihren Koffer und begleite sie zu ihrem Hotel. M. ist erleichtert, Z. ihr sympathisch, also nimmt sie sein Angebot gerne an. Z. nimm ihren Koffer an sich und freundschaftlich miteinander plaudernd setzt man gemeinsam den Weg fort. Im Hotel kommt M. allerdings niemals an.

Wählen wir noch eine andere Variante dieser Handlung:

Nehmen wir an, unsere erwartungsvolle Reisende M. hätte bei ihrer Ankunft niemanden getroffen, der ihr übel mitspielen wollte. Nehmen wir an, M. wäre wohlbehalten in ihrem Hotel angekommen, im Gepäck all die Bilder, die sie nach Venedig geführt hatten. Sie ist müde vom Warten am Heimatflughafen, der Anspannung, ob der Flug noch statffindet, und der Verwirrung am Anlegesteg San Marco. Aber jetzt, da sie ihr Hotel gefunden hat, ist sie euphorisch und freut sich auf ihr gemütliches Zimmer, die erste Nacht in Venedig, die nächsten Tage, für die sie sich einiges vorgenommen hat.

Leider ist ihr Zimmer dann nicht so, wie sie es erwartet hat. Sie geht zum Portier, sie fordert ein anderes Zimmer. Sie will das Zimmer, das sie ihrer Meinung nach gebucht hat. Der Portier erklärt ihr höflich, er sei für diese Dinge nicht zuständig, sie müsse diese Angelegenheit am Morgen mit den zuständigen Leuten klären, dann wünscht er ihr eine gute Nacht und wendet sich dem Telefon zu, das gerade klingelt.

Frustriert geht M. in ihr Zimmer zurück. Sie denkt daran, was sie für dieses Zimmer bezahlt hat, sie denkt an ihre gemütliche Wohnung zu Hause und an das viel bequemere Bett dort. Sie fragt sich zum ersten Mal, ob es eine gute Wahl war, nach Venedig zu kommen.

Gleich am Morgen, sie hat  gut geschlafen und ist voller neuer Hoffnung, trägt sie ihre Forderung nach einem anderen Zimmer erneut an der Rezepzion vor. Der Rezeptionist hört sich ihre Beschwerde in aller Ruhe an, er lächelt freundlich, und als sie geendet hat, verweist er auf die Geschichte des Hauses, auf die Lampen aus Muranoglas, den einzigartigen Blick aus ihrem Zimmer über die Lagune. Er erklärt ihr, die Lampen seien mehr als hundert Jahre alt – vielleicht noch älter – und aus der ältesten fabbrica di vetro di Murano. Er könne, führt der Rezeptionist weiter aus, ihr gerne eine private Besichtigung vermitteln und auch eine preisgünstige Gondelfahrt, für sie, die Hübsche, gäbe es sogar einen extra günstigen Preis. Und dann wird er M. für die Tapeten im Stil des Art Déco von Fortuny in ihrem Zimmer zu gewinnen suchen. Königs- und Adelshäuser seien mit Tapeten von Fortuny ausgestattet, und dann der Holzboden, aus der Zeit Casanovas, der in diesem Zimmer übernachtet habe, nach seiner Flucht aus dem Verlies des Palazzo Ducale, von engen Freunden geschützt. Auch Lord Byron habe in diesem Zimmer genächtigt, nachdem er den Canal vom Lido kommend durchschwommen habe. Seine Geliebte habe im Bett auf ihn gewartet, eine Nonne und Dame aus vornehmem Haus, die man ins Kloster gegeben habe, das unweit des Hotels gelegen habe. Sehr freizügig sei es dort zugegangen, aber das sei eine andere Geschichte, dier er ihr gern ein andermal erzähle. Er wird sie fragen, ob sie schon gefrühstückt habe in dem einzigartigen Speisesaal, der einen einzigartigen Blick über die Lagune und hinüber zur Insel San Giorgio und Giudecca ermögliche.

Wie geht es weiter mit M., und wie wird sie am Ende über Venedig, ihren Aufenthalt dort, denken? Ich überlasse es gerne der geschätzten Leserin oder dem geschätzten Leser dieses Textes, das zu entscheiden.