Anfangen zu erzählen, noch eine Fortsetzung


Organisatorisches werde ich nicht mehr besprechen, sagte ich mir auf dem kurzen Nachhauseweg. Sollen sie das mit dem Institutsleiter klären, ich bring sie gerne hin. Lernen, Bildung, Inhaltliches in Deutsch, Geschichte; Besonderheiten des Zweiten Bildungsweges – darauf lenke ich das Gespräch am Donnerstag. Wenn’s nicht klappt – hier tauchte Irmi vor meinem geistigen Auge auf – war’s das eben mit meiner Gesprächsbereitschaft. Ich wusste selbst nicht, warum ich auf einmal von Verdruss erfüllt war. Eigentlich bestand kein Grund dazu. Maria hatte mich gefragt, ob ich Zeit für sie hätte. Ihr Satz ich will, dass mein Kind stolz ist auf mich hallte in mir nach. Trotzdem: Ich schob die Gedanken an die beiden Frauen und das nächste Treffen mit ihnen beiseite und dachte an die Examensarbeit, die ich mit Professor D. abgesprochen hatte. Im Grunde hatte Professor D. die Arbeit für mich konzipiert. Er hatte sich in seinem Büro hingesetzt, Papier und Bleistift zur Hand genommen (war es ein Bleistift?) und notiert:

„‘Idealismuskritik im deutschen Drama des zwanzigsten Jahrhunderts‘ – ein guter Titel, was meinen Sie?“

„Ja.“

„Das handeln Sie an Schiller-Dramen ab; nur an Schiller-Dramen – im Vergleich mit modernen Dramen. Also … da nehmen Sie: ‚Maria Stuart‘ im Vergleich mit ‚Mary Stuart‘ von Hildesheimer …“

„In Ordnung.“

„‚Die Jungfrau von Orleans‘ und Brechts ‚Heilige Johanna der Schlachthöfe.‘“

„Gut.“

„‚Die Braut von Messina‘ und Gerhart Hauptmanns ‚Die Ratten‘; vielleicht sein bestes Stück.“

„Ja, das ist sehr interessant.“ (Was? Hauptmanns „Ratten“?)

„Natürlich müssen Sie eine ausführliche Einleitung schreiben, in der Sie auf den Idealismus im Allgemeinen und den spezifisch Schillerschen Idealismus seiner klassischen Zeit um Achtzehnhundert eingehen. Eine genauere Begründung für die Auswahl der modernen Vergleichsstücke brauchen Sie, denke ich, nicht zu geben, schließlich ist der große Archetyp aus Jena, später Weimar, die Zielscheibe der modernen Autoren. Was deren Kritik ausmacht, müssen Sie natürlich wieder darlegen.“

„Ich verstehe.“

„Na, dann viel Glück! Wollen Sie meinen Zettel haben?“

„Danke, aber ich merke mir das.“

„Sagen Sie’s nochmal.“

„Das Thema lautet ‚Idealismuskritik im deutschen Drama des zwanzigsten Jahrhunderts. Darin vergleiche ich Schillers ‚Maria Stuart‘ mit Hildesheimers ‚Mary Stuart‘, ‚Die Jungfrau von Orleans‘ mit Brechts ‚Heiliger Johanna der Schlachthöfe‘ und ‚Die Braut von Messina‘ mit Hauptmanns ‚Ratten‘.“

„Schön“, sagte Professor D., dann behalte ich den Zettel zu meiner Erinnerung. Da fällt mir ein: Haben Sie eine zitierfähige Schillerausgabe zu Hause?“

„Ich habe eine dreibändige Ausgabe vom H.er-Verlag.“

„Ach, die können Sie nicht nehmen, die ist zu klein. Da empfehle ich Ihnen vom selben Verlag die Sämtlichen Werke in fünf Bänden. Die sind brauchbar für Ihre Examensarbeit.“

„Gut, die besorge ich mir.“

Ich sah mich schon in der Rufus-Buchhandlung in M. stehen. Vielleicht würde der Inhaber meine Bestellung aufnehmen, er veröffentlichte Lyrik von ganz eigener Art und hatte mir einen Band signiert und geschenkt. Schon öfter hatte ich mich mit ihm unterhalten über Literatur. Am besten sollte ich gleich zur Rufus-Buchhandlung fahren. Ich ging die wenigen Schritte von der Pizzeria zu meiner WG, wo ich mein Rennrad in meinem Zimmer stehen hatte. Ich wollte es nicht im Hof lassen, wo schon Diebstähle und Beschädigungen an abgestellten Fahrrädern geschehen waren. Als ich die Wohnungstür aufschloss und in den Flur trat, kam gerade meine Mitbewohnerin Eva aus dem Bad, worauf mein Mitbewohner Frank anscheinend gewartet hatte, weil er selbst ins Bad wollte. Wir trafen uns alle im engen Flur. Ich drehte mich mit dem Rücken zur Wand, dass die beiden an mir vorbeigehen konnten. Eva studierte Anglistik und Soziologie auf Magister, Frank Mathematik auf Diplom. Er wollte nicht Lehrer werden. Eva eigentlich auch nicht, aber sie wusste es noch nicht genau. Von meiner Bekanntschaft und dem Treffen mit den beiden Frauen aus dem Supermarkt erzählte ich nichts.

 

In der Rufus-Buchhandlung stand niemand im ebenerdigen Verkaufsraum, keine Kundschaft, keine Bedienung, wie ich von der Straße durch das Schaufenster sehen konnte. Ich befestigte mein Rennrad an einem Metallpfeiler mit dem Kettenschloss, öffnete die Ladentür und betrat den mit einem strapazierfähigen Teppich ausgelegten Bücherraum. Die Bücherwand mir gegenüber war mit einer Öffnung ohne Tür versehen, hinter der sich das Büro des Inhabers und seiner Mitarbeiterinnen befand. Es handelte sich, wenn ich es in der Vergangenheit richtig wahrgenommen hatte, um drei Mitarbeiterinnen, wovon eine höflich und zuvorkommend, die andere eher neutral und die dritte latent unangenehm war; als ob sie mir einen Gefallen täte, wenn ich bei ihr ein Buch bestellte oder abholte. Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn der Gedichte schreibende Inhaber hervorgekommen wäre aus dem Büro, wir hätten dann vielleicht sprechen können über Schiller oder einen anderen Autor. In letzter Zeit hatte ich ihn allerdings immer seltener in der Buchhandlung gesehen. Ob er krank war, die Last der Jahre ihn daran hinderte, wie früher seinem Verdienst als Buchhändler nachzukommen? Tatsächlich erschien in der Öffnung ohne Tür die dritte Mitarbeiterindes Inhabers, diejenige also, die ich am wenigsten leiden konnte und um derentwillen es mir fast lieber gewesen wäre, die fünfbändige Schiller-Ausgabe in irgendeiner anderen Buchhandlung zu bestellen – was ich dann am Ende doch nicht tat, aus Treue zum Inhaber. Die dritte Mitarbeiterinrecherchierte im Computer jeden einzelnen Band der Ausgabe und machte dabei Bemerkungen, die mir teilweise überflüssig erschienen. Ich griff nach einem neuen Lyrik-Band des Inhabers, ausgelegt am Regaltisch mit der Kasse darauf, und blätterte darin. Es handelte sich um die mir schon vertraute Gedichtform aus zwei dreizeiligen Strophen, wobei die jeweils zweite Verszeile oft, aber nicht immer, aus nur einem Wort bestand. Konsequente Kleinschreibung. „immer / das fremde zuvor. dann erst / betreten // das land“, begann das erste Gedicht. Es gehörte wie die folgenden des neuen Buches zu einem großen Zyklus, an dem der Autor kontinuierlich weiterschrieb. „immer / das fremde zuvor“. Die dritte Mitarbeiterin erhob sich endlich von ihrem Bürostuhl, sagte, dass ich morgen die fünfbändige Ausgabe „wahrscheinlich“ schon abholen könne und dass sie hundertachtundvierzig Mark kosten würde. „Gut“, entgegnete ich. Möglicherweise erfolge die Lieferung aber auch erst übermorgen, ich solle zur Sicherheit morgen anrufen, bevor ich extra herkomme. Ich wusste, was nun kam: „Wollen Sie vielleicht schon bezahlen? Dann vermerke ich das gleich.“

„Die Schiller-Ausgabe bezahle ich morgen oder übermorgen, aber das hier“ – ich hielt den Gedichtband des Inhabers der Buchhandlung in die Höhe – „nehme ich gleich mit.“

„Das macht dann vierzehn Mark“, erhielt ich kühl zur Antwort.

Ich bezahlte, dann sagte ich aus einem Impuls heraus, den ich selbst nicht recht verstand, weil ich so rasch wie möglich raus wollte aus dem Laden:

„Schöne Grüße an Herrn K. Ich hoffe, es geht ihm gut?“

„Leider geht es ihm nicht so gut. Er war eine Zeitlang im Krankenhaus und ist jetzt in ein Altenheim verlegt worden zur Pflege.“

„Ach ja?!“, meinte ich erschrocken.

„Ja, so ist es leider. Aber Ihre Grüße kann ich trotzdem ausrichten.“

„Danke.“

Während ich die Schlosskette vom Fahrrad löste, versuchte ich mich daran zu erinnern, wie die letzte Begegnung mit dem Inhaber der Buchhandlung verlaufen war. Aber meine Gedanken schweiften ab. Ich musste damit rechnen, dass ich Herrn K. nicht mehr wiedersehen würde. Er hatte mir einmal erzählt, dass seine Buchhandlung die älteste der Stadt sei und schon im Jahr 1907 eröffnet worden sei. Es handelte sich um eine kleine Buchhandlung. Würde sie fortbestehen können über den dann einstigen Inhaber hinaus?

Meine Großmutter war vor zwölf Jahren verstorben. Mit ihr war ich als Kind in meiner Heimatstadt F. fußläufig zum „Kaufhaus Unkelhäußer“ gegangen, wenn meine Großmutter einen neuen Küchenschlauch aus Plastik, hundertdreißig Millimeter lang, benötigte, oder Rauchwaren für meinen Großvater, oder ein Spielzeugauto oder ein Malbuch für mich. Wir mussten nicht in eine neue Straße einbiegen und nicht einmal die Straßenseite wechseln, sondern nur auf der Hauptstraße bleiben, an der das Großelternhaus lag. Das Kaufhaus bestand aus einem einzigen eher kleinen Verkaufsraum sowie einem Ausstellungsraum für Geschirr. Herr Unkelhäußer war nicht viel größer als meine Großmutter, lächelte oft, sprach leise und stak im grauen Kittel eines Lageristen. Den Wasserschlauch für die Großmutter legte er in eine Papiertüte, deren Öffnungsstreifen er umknickte. Er und meine Großmutter kannten sich seit Jahrzehnten. Beide gehörten alteingesessenen F.er Familien an. Nicht lange nach meiner Großmutter starb auch Herr Unkelkhäußer. Ich war dann noch einmal in seinem Laden. Die Witwe erschien hinter der Theke, das stets feine Lächeln ihres Mannes besaß sie nicht. Sie wolle nicht von der Ladentheke ins Grab fallen, sagte sie. Kurz darauf war das Kaufhaus Unkelhäußer geschlossen … Schräg gegenüber vom Kaufhaus Unkelhäußer befand sich in der Hauptstraße die Metzgerei Peter Keller. In der Wohnung der Großeltern fiel immer wieder der Name Peter Keller. „Der Schinken schmeckt gut.“ „Vom Peter Keller.“ „Das ist aber eine hervorragende Schweinelende!“ „Vom Peter Keller.“ „Ausgezeichnete Bratwüste!“ „Vom Peter Keller.“ Wenn ich mit meiner Großmutter dort einkaufen ging, bemerkte ich den gleichen vertrauten Tonfall zwischen ihr und der Bedienung wie im Kaufhaus Unkelhäußer. Falls einmal das Fleisch sehnendurchsetzter war als sonst oder meine Großmutter aus einem anderen Grund nicht zufrieden war, lief sie zum Peter Keller und beschwerte sich. Natürlich erhielt sie umgehend kostenfreien Ersatz … Über siebzig Jahre ging meine Großmutter, die 81 Jahre alt wurde, ins Lebensmittelgeschäft von Heinrich Flesch, auf der anderen Seite der Gasse, an der ein Teil ihres Hauses mit dem Tor lag und welche die Haupt- mit der Grabenstraße verbindet. Dort nannte sie jeden einzelnen Artikel, den sie haben wollte, und bekam ihn von Heinrich Flesch oder den Mitgliedern seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern im Jugendalter, die im Laden halfen, auf die Theke gelegt, wobei gleich im Anschluss der Preis in eine Rechenmaschine eingegeben wurde. Natürlich wurde meine Großmutter nicht zu allen Zeiten ihres Kundendaseins von Heinrich Flesch oder einem Mitglied seiner Familie bedient, sondern auch schon die Vorgänger Heinrich Fleschs und wahrscheinlich auch die Vorvorgänger hatten meine Großmutter gefragt, was es sein dürfe. Wenn es Samstagabend war und Fleschen längst geschlossen hatte, konnte man zuweilen noch Rufe hören von der Gasse nach oben zu den Fenstern der Wohnung der Familie Flesch: „Habt ihr noch Brot?“, hieß es dann, oder: „Habt ihr noch Milch?“ Auch meine Großmutter befand sich hin und wieder unter diesen Späteinkäufern nach Ladenschluss … Zu den drei Geschäften, die ich bis jetzt erwähnt habe: Kaufhaus Unkelhäußer, Peter Keller und der Lebensmittelladen von Heinrich Flesch gehörte noch ein Fischgeschäft, das ebenfalls in der Hauptstraße lag und das meiner katholischen Großmutter für das freitägliche Mittagessen über Jahrzehnte hin von Bedeutung war … Alle diese Geschäfte sind verschwunden. Es kommt mir heute so vor, als ob sie mit meiner Großmutter verschwanden, auch wenn sie das eine oder andere Jahr ihres Todes überdauerten. Verschwunden ist die Verlässlichkeit der Umgebung durch ein ganzes Leben hin, die Vertrautheit jahrzehntelanger Bekanntschaft und die Möglichkeit, auch nach Ladenschluss noch Brot oder Milch zu erhalten. – Noch gab es die älteste Buchhandlung in M., noch lebte der Inhaber. Aber er konnte schon nicht mehr tätig sein zwischen den Bücherregalen des Verkaufsraums und in seinem Büro. Würde es mit der Buchhandlung nicht bald ebenso sein wie mit dem Kaufhaus Unkelhäußer, der Metzgerei Peter Keller, dem Lebensmittelladen des Heinrich Flesch und dem Fischgeschäft in meiner Heimatstadt F.? Zwei, drei riesige Buchhandlungen gab es schon in M. Sie gehörten irgendwelchen Ketten an und waren nicht der Art, dass ich gerne dorthin ging. Es stand dort kein Inhaber, von dem Gedichtbände auslagen und mit dem ich mich unterhalten konnte über Schiller, Stifter oder Thomas Mann. Wenn ich dort ein Buch kaufte, wusste bald darauf niemand mehr, dass ich dagewesen war.