Anfangen zu erzählen, Fortsetzung


Anfangen zu erzählen, Fortsetzung

 

„Ich heiße Irmi, das ist Maria, und wie heißen Sie?“, fragte die Frau, die vorhin an der Kasse gestanden hatte.

„Ich heiße Johann“, antwortete ich. Der Tonfall unserer Unterhaltung war gesetzt, merkte ich: Vorname und Siezen; es war mir recht.

„Bestimmt haben Sie ganz viele Fragen. Schießen Sie los!“, sagte ich.

„Ja … Wie läuft das an diesem Institut? Wo ist das überhaupt?“, fragte Irmi.

„Das Institut befindet sich in der Nähe des Bahnhofs, gegenüber der Ricarda-Huch-Bibliothek in der Albertusstraße 42. Kennen Sie die Ricarda-Huch-Bibliothek?“

Beide Frauen schüttelten verneinend den Kopf.

„Aber die beiden Hochhäuser in der Nähe des Bahnhofs kennen Sie, oder?“

„Ja, die kennen wir“, antwortete Maria.

„Gut; dann wissen Sie ungefähr Bescheid. Falls Sie nach unserem Gespräch weiterhin Interesse haben, können wir ja mal zusammen hingehen… Ja, wie läuft das? – Der Unterricht findet dienstags bis freitags statt, in der Regel von 18 bis 22 Uhr.“

Ein Kellner erschien an unserem Tisch. Er schenkte mir ein Kopfnicken; zwei-, dreimal war ich schon Gast gewesen in der Pizzeria. Außerdem kannten wir uns vom Sehen, weil mein WG-Zimmer nur ein paar Schritte entfernt war.

„Prego“, meinte er mit erwartungsvollem Blick. Wir gaben unsere Bestellung auf.

„Was kostet das am Institut?“, knüpfte Irmi das Gespräch wieder an, sobald der Kellner gegangen war. „Und wie lang dauert es bis zum Abi?“

„Der Abikurs kostet monatlich glaube ich um die 350 Mark. Genau können Sie das vom Institutsleiter erfahren…“

Ich hatte das Gefühl, als ob die beiden Frauen innerlich zusammenzuckten wegen der 350 Mark, sprach aber weiter:

„Was die Dauer betrifft, gibt es zwei Varianten: 24 Monate bis zu den Prüfungen oder 18 Monate.“

„Wovon hängt das ab?“

„Von Ihrer Vorbildung.“

„Vorbildung?“, fragte Irmi.

„Na ja, was Sie eben schon wissen in Deutsch, Mathe, Englisch und einer zweiten Fremdsprache, entweder Französisch oder Latein. Für die Variante mit den 18 Monaten müssen Sie einen Eignungstest bestehen, damit Sie eine realistische Chance haben auf das Abitur.“

„Aha“, meinte wieder Irmi. „18 Monate oder sogar 24, also zwei Jahre, sind aber ganz schön lang. Geht es nicht schneller?“

„Es gibt hier in M. ein Kolleg, da kostet der Abiturkurs nichts, dauert aber mit Vorkurs dreieinhalb Jahre. Der Unterricht findet tagsüber statt. Oder Sie fahren nach F., dort gibt es ein Abendgymnasium, aber auch dort müssen Sie die Oberstufe mit drei Schuljahren durchlaufen.“

„Ne, ich will meinen Wisch so schnell wie möglich haben. 18 Monate, wenn das am schnellsten ist“, ließ sich Irmi vernehmen.

„Ich auch“, sagte Maria.

Mit „Wisch“ meinte sie anscheinend das Abiturzeugnis, die 350 Mark Kursgebühren waren wohl kein unüberwindliches Hindernis, registrierte ich.

„Die Prüfungen legen Sie an einem staatlichen Gymnasium irgendwo in unserem Bundesland ab.“

„Nicht am Institut?“, fragte Maria.

„Nein, am Institut erhalten Sie die Vorbereitung, die Prüfung findet, wie gesagt, an einem staatlichen Gymnasium statt.“

 „Und die Anmeldung zur Prüfung?“, fragte Irmi.

„Übernimmt das Institut. Jedes Jahr beauftragt das Kultusministerium ein Gymnasium, die Prüfung durchzuführen. Letztes Jahr waren wir am J.-Gymnasium in K., davor in L. und so weiter.“

„Könnte ich mich“, fragte Irmi weiter, „oder“ – mit Blick auf Maria – „uns auch selbst anmelden? Könnten wir uns auch selbst vorbereiten?“

„Das weiß ich nicht genau; vielleicht! Es handelt sich um das sogenannte Abitur für Nichtschüler. Man müsste sich die Bestimmungen durchlesen. Aber trauen Sie sich zu, sich allein auf das Abitur vorzubereiten?“

Maria schüttelte verneinend den Kopf. Irmi schaute mich nur an mit starrem Blick. Da fiel mir etwas ein:

„Wenn ich jetzt einen Knopf drücken könnte“ – ich drückte mit dem rechten Zeigefinger einen imaginären Punkt auf dem Tisch – „und Sie erhielten sofort das Abiturzeugnis – würden Sie es nehmen?“

Eine Antwort der beiden Frauen wurde vom Kellner vorerst verhindert, der auf einem runden Tablett die Getränke brachte: für Irmi und Maria je ein Glas mit Orangensaft, für mich eine kleine Flasche mit Mineralwasser, aus der er – noch auf dem Tablett – in ein leeres Glas einschenkte, das er mir hinstellte. „Prego“, sagte er wieder und verschwand.

Ich hob mein Glas mit Mineralwasser in die Höhe:

„Auf Ihre neuen Schritte ins Land der Bildung!“

Was soll ich sagen? Bei Irmi konnte ich keine nennenswerte Reaktion auf meinen Trinkspruch wahrnehmen. Ganz anders bei Maria: Nicht dass sie etwas geäußert hätte, aber ich spürte, wie sie sich angesprochen fühlte und das Wort „Bildung“ für sie offenbar einen Glanz verbreitete. Ich lächelte ihr zu.

„Soll ich den Knopf drücken für Ihr sofortiges Abitur?“, knüpfte ich den unterbrochenen Faden unseres Gesprächs wieder an.

„Wenn es keine Schwierigkeiten machen würde – warum nicht?“, antwortete Irmi.

Ich schaute Maria an. Sie lächelte ein wenig verlegen und sagte:

„Es kommt darauf an, ob wir den Abiturstoff dann auch beherrschen würden oder nicht.“

„Nehmen wir an, Sie würden ihn beherrschen“, entgegnete ich.

„Dann vielleicht“, meinte Maria. „Obwohl“, schränkte sie gleich ein und sah Irmi an. Aber sie führte das „Obwohl“ nicht aus.

„War ein Gedankenspiel“, sagte ich „Was wollen Sie mit dem Abitur machen, wenn ich fragen darf?“

„Ich will in die Geschäftsleitung, da kommt man nur hin mit Abi“, antwortete Irmi.

„Ich will, dass mein Kind stolz ist auf mich“, sagte Maria. „Was ich dann genau mache mit dem Abitur …“. Sie zuckte mit der rechten Schulter. „Muss ich mal sehen.“

„Am Ende landest du auch in der Geschäftsleitung. Hast du gleich dein gutes Geld“, gab Irmi zu bedenken.

Maria erwiderte nichts darauf.

„Fang dann ja nicht noch an zu studieren! In unserm Alter!“

Ich sah auf Maria. Sie blieb weiterhin stumm. Da fragte ich sie:

„Wie alt ist Ihr Kind?“

„Viereinhalb.“

„Junge oder Mädchen?“

„Mädchen.“

Wir schwiegen einen kurzen Moment, bevor Irmi fragte:

„Und was machen Sie? Sie sind am Institut?“

„Ja, aber wie gesagt: nebenberuflich. Gerade fange ich an mit meiner Examensarbeit, in drei Monaten will ich damit fertig sein, danach bereite ich mich auf die Prüfungen vor.“

„Wann sind die?“

„Anfang des kommenden Semesters, also Mitte, Ende Oktober.“

„Und dann?“

„Wenn alles klappt, geh ich zum ersten Februar nach Trier ins Ref. … – Referendariat.“

„Was ist das?“

„Der Vorbereitungsdienst für Lehrer.“

„Ich denk, Sie sind schon Lehrer am Institut.“

„An einem privaten Institut kann ich auch als Student unterrichten, an einer staatlichen Schule nicht, da brauche ich das Zweite Staatsexamen.“

„Das zweite“, wiederholte Irmi, „und was ist das erste?“

„Bin ich gerade dabei. Mitte, Ende Oktober, wie gesagt, müsste ich es haben.“

„Und warum das Ref., oder wie das heißt, in Trier? Warum nicht hier in M.?“, fragte Irmi weiter.

„Ich habe als Zweitfach Philosophie, das gibt es im Vorbereitungsdienst im zweijährigen Wechsel entweder in Trier oder Koblenz, leider nicht in M.“

„Und der Vorbereitungsdienst ist das Re …, Re…“, sagte Maria.

„Referendariat“, ergänzte ich und antwortete: „Ja.“

„Haben wir Sie dann noch als Lehrer am Institut?“, fragte Irmi.

„Wenn Sie im August anfangen würden, noch ein halbes Jahr.“

„Bis zum Februar“, sagte Maria.

„Ja“, entgegnete ich. „Was ich noch sagen wollte: Außer drei Wochen Sommerpause und den üblichen Feiertagen gibt es keine Ferien am Institut. Im letzten halben Jahr schreiben Sie an jedem Samstagvormittag eine Kursarbeit entweder in Deutsch, Englisch, Mathe oder Geschichte. – So, jetzt haben Sie schon ziemlich viel Organisatorisches erfahren…“

„Aber der Unterricht geht weiter?“, fragte Maria.

„Während der Kursarbeitsphase? Ja, ganz normaler Unterricht. Die Samstagvormittage sind dann Zusatztermine“, erklärte ich.

Der Kellner brachte das Essen: Pizza Salami für Irmi, Quattro Stagioni für Maria und für mich Spaghetti Napoli. Wir aßen mehr oder weniger schweigend, sprachen nur vereinzelt über gleichgültige Sachen, bis erneut Maria fragte:

„Haben Sie vielleicht übermorgen Zeit; wieder wie heute; auch wieder hier?“

Ich überlegte kurz.

„In Ordnung.“