Athenaios von Naukratis


Thomas Berger
Beitrag über Athenaios von Naukratis
veröffentlicht im Biographisch-Bibliographischen Kirchenlexikon (BBKL)
Januar 2024

ATHENAIOS VON NAUKRATIS, antiker griechischer Rhetoriker, Gelehrter und Schriftsteller, um 200 n. Chr. Über seine Person ist nur sehr wenig überliefert. Er wurde in der griechischen Handelsstadt Naukratis an der Küste Ägyptens geboren und wirkte in Alexandreia und in Rom. Seine beiden Werke Über die syrischen Könige und Über thrakische Frauen sind verloren. Erhalten sind die Deipnosophistai, ein großer fiktionaler Bericht über ein mehrtägiges Gelehrtenmahl. Es handelt sich hierbei um ein Kompendium von 15 Büchern, das möglicherweise auf eine 30 Bücher umfassende Urfassung zurückgeht. Von den 15 Büchern sind die ersten drei, teilweise das elfte und der Schluss nicht vollständig überliefert. Entstanden ist das Werk mit dem von Athenaios wortschöpferisch geprägten Titel in Alexandreia, vermutlich kurze Zeit nach dem Tod des römischen Kaisers Commodus (192 n. Chr.), da in ihm Handlungen des Kaisers kritisiert werden.  ̶ Im Dialog mit dem unbekannten Freund Timokrates erzählt Athenaios von dem, was er bei seiner Teilnahme an der Tafelrunde erlebt und gehört hat. Die Deipnosophistai gehören zur Gattung der Symposion-Literatur; sie lassen somit an Prosawerke über Gastmahle denken, wie sie etwa von dem Philosophen Platon (428/427-348/347 v. Chr.) sowie den Schriftstellern Xenophon (ca. 430-ca. 354 v. Chr.) und Plutarch (ca. 45-vor 125 n. Chr.) bekannt sind.  ̶  Was den Stoff und den Umfang der Sammlung anbelangt, ist sie der Poikilographie (Buntschriftstellerei) zuzurechnen, einer frühen Vorläuferform der Enzyklopädie. Poikilographische Werke präsentieren ihre breit gefächerten Themen nach Art eines Kaleidoskops bewusst „bunt zusammengewürfelt“. So heißt es in der Einführung des Ersten Buches: „Der Handlung zugrunde liegt ein Gastmahl, zu dem der prominente Römer Larensis aus seiner Umgebung die besten Experten auf allen Wissensgebieten geladen hat.“ (Athenaios von Naukratis: Das Gelehrtenmahl. Ausgew., übers. u. komment. v. Ursula und Kurt Treu. Leipzig 1985, 5) Gastgeber der überwiegend aus Griechen bestehenden Männerrunde, die der Verfasser in Rom, dem Zentrum der damaligen Welt, tafeln lässt, ist der römische Ritter Publius Livius Larensis. Dieser wirkte unter der Regentschaft der Kaiser Marcus Aurelius (161-180 n. Chr.) und Commodus (180-192 n. Chr.). Er war pontifex minor (sakraler Beamter),  Finanzprocurator in der Provinz Moesia (Balkan) und procurator patrimonii (Leiter der kaiserlichen Zentralkasse) in Rom.  Unter den 29 gelehrten und angesehenen Gästen befinden sich Juristen, Grammatiker, Ärzte, Philosophen, Dichter und Musiker. Auch bei der Darstellung dieses Personenkreises mischt der Verfasser Wirklichkeit und Phantasie. Häufig sind die Namen der Mahlgelehrten Anspielungen auf berühmte Persönlichkeiten. So ist etwa Ulpianos von Tyros ein Hinweis auf den römischen Rechtsgelehrten Domitius Ulpianus (ca. 170-228 n. Chr.). Und Galenos von Pergamon meint den berühmten griechischen Arzt und Philosophen Galen (129-ca. 216 n. Chr.).  ̶  Die von den Gesprächsteilnehmern rund um das Speisen als kulturelles, gemeinschaftliches Phänomen erörterten disparaten Fragen lassen kaum ein Thema aus: Kochkunst und Weingenuss, Fischhandel und zoologische Schriften, Tischsitten verschiedener Völker, Historisches und Anekdoten, Medizin und Kosmetik, Musikästhetik und Instrumentenkunde finden sich ebenso wie Sprache und Literatur, Komödien und Tragödien, Philosophie und Mythologie, Religion und Sklaverei, Erotik und Hetären, Tanz und Trinklieder. Auch die bei Gastmahlen üblichen unterhaltsam-belustigenden Spiele werden dargeboten. Der Stil der Gespräche ist nicht streng wissenschaftlich. Athenaios strebte vielmehr Verständlichkeit an.  ̶ Er zitiert annähernd 700 Autoren, darunter die Zeitgenossen Pankrates aus Alexandreia (2. Jh. n. Chr.), Herodes Atticus (ca. 101/103-177 n. Chr.) sowie Oppianos aus Korykos in Kilikien (2. Jh. n. Chr.). Es ist offensichtlich, dass die zitierten langen Passagen nicht auswendig bei Tisch vorgetragen werden konnten. Athenaios wandte, indem er gleichwohl Texte wörtlich wiedergeben lässt, ein Verfahren an, das bereits die Dialoge Platons kennzeichnet. Auf Grund des reichhaltigen Zitatenschatzes und der Nennung von 1500 verlorenen Werken, von denen die DeipnosophistaiFragmente enthalten, gilt das Werk, trotz der fehlenden kompositorischen Struktur, als bedeutende Quelle für das Studium der Lebensgewohnheiten, der Philosophie und Literatur im antiken Griechenland. Insbesondere an der Komödiendichtung war Athenaios gelegen, an der „Alten Komödie“, wie wir sie von Aristophanes kennen, ebenso wie an der „Mittleren Komödie“ und der „Neuen Komödie“, für die der Dichter Menander (342/341-291/290 v. Chr.) steht. Das weit über Athen hinausreichende Panorama umfasst sowohl „Griechen“ als auch „Barbaren“. „Athenaios hat die Bibliothek von Alexandreia redlich genützt und uns eine Unsumme wissenswerter Dinge bewahrt. Er sei für seine Zitierwut gepriesen und auch dafür, daß er bei seinen Anführungen recht sorgfältig gewesen ist“, urteilt der Altphilologe Albin Lesky in seiner Geschichte der griechischen Literatur (2., neu bearb. u. erweit. Aufl. Bern, München 1963, 910).