Literatur


Vortrag über das Werk Thomas Bergers

Kelkheim, Stadtbibliothek, 23. Februar 2024, 17:30–19:00 Uhr,

  1. Teil: Literatur

 

In dem Buch „Auf Dichterspuren. Literarische Annäherungen“, erschienen 2020, eines der unbestrittenen Hauptwerke Thomas Bergers, lese ich immer wieder gerne. Es ist ein Buch des geglückten Einfalls und der souveränen Ausführung. Worum geht es? Für jeden Buchstaben des Alphabets stellt der Autor zwei Dichterinnen oder Dichter vor. Er beschreibt Biographisches, geht auf Werkgeschichtliches en gros ein sowie auf Einzelwerke, wobei er stets auch literaturwissenschaftliche Stimmen zitiert. Zum Abschluss lesen wir die eigene Auffassung des Verfassers der „Dichterspuren“, etwa über Theodor Storm als vermeintlichen Heimatdichter, über die Bedeutung von Anna Seghers‘ Roman „Das siebte Kreuz“ oder John Updike als „Virtuosen der amerikanischen Erzählkultur.“ Die „eigene Auffassung“ kann auch früher schon eingestreut werden vom Autor; nicht allein mit literaturwissenschaftlichen Bemerkungen auf der Sachtextebene, sondern auch in Versform. Auf der Höhe seines literaturkundlichen Umblicks entzieht sich Thomas Berger den Schablonen. Das war und ist es wohl, was mich am „Dichter-ABC“ fasziniert: die Spannbreite von großer Gelehrsamkeit und privater Stellungnahme sowie der Wechsel der Sprachformen von der Sachtext- auf die lyrische Ebene. Bei den mir bekannten Autorinnen und Autoren des umfangreichen Werkes habe ich Neues erfahren, etwa die Schwierigkeiten Theodor Storms mit seinem ältesten Sohn oder die wahren Motive des Klostereintritts der Heloise, Geliebte des mittelalterlichen Philosophen Abaelard, aber ich habe auch mir bisher unbekannte Autorinnen und Autoren kennengelerntwie Christine Lavant oder Francisco de Quevedo. Die „Dichterspuren“ stellen ein mutiges, einfallsreiches und in vielen Facetten brillierendes Buch dar. Mein Eindruck, dass Autoren über ihre Kollegen oft packender schreiben können als „reine Literaturwissenschaftler“, bestätigt das Dichter-ABC Thomas Bergers vollumfänglich.

Neben den besonderen und jeweils wenige Seiten umfassenden Texten für einen Autor oder eine Autorin im „Dichter-ABC“ hat Thomas Berger literaturwissenschaftliche Essays größeren Umfangs verfasst. Der Essay über Friedrich Hölderlin „Hold – Holder – Hölderlin. Einblicke zum 250. Geburtstag des Dichters“ ist veröffentlicht worden im Literarischen Journal „SCHREIBTISCH“ 2020 des Verlages „edition federleicht“. Über den noch bis weit in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sehr populären Erzähler Ernst Wiechert werden wir einen Essay Thomas Bergers lesen können im Jahresband 2025 der Ernst Wiechert-Gesellschaft zum 75. Todestag des Autors der „Jerominkinder“ oder des „Einfachen Lebens“. Über den hierzulande kaum bekannten, aber höchst bedenkenswerten englischen Arzt, Dichter und Philosophen der Aufklärung, Thomas Browne (1605–1682), hat das Biographische-Bibliographische Kirchenlexikon in seiner online-Ausgabe einen langen Artikel veröffentlicht; die Print-Ausgabe wird folgen. Gemeinsam ist diesen literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeiten neben der detailreichen Darstellung biographischer und bibliographischer Zusammenhänge eine ausgewogene, kluge und, wie mir scheint, gerechte Einschätzung des jeweiligen Autors. Dabei rückt Thomas Berger auch fragwürdige Positionen der Literaturwissenschaft zurecht, etwa wenn dem Autor des Romans „Das einfache Leben“, Ernst Wiechert, vorgehalten wird, eine idyllische Haltung zur Zeit des NS-Regimes vertreten zu haben, ohne dass in Rechnung gestellt wird, dass Ernst Wiechert aus dem KZ entlassen worden war, wo er die Schrecken des NS-Terrors in ihrer ganzen unbegreiflichen Grausamkeit vor Augen hatte und von Goebbels persönlich mit dem Tod bedroht worden war, sollte er dem Regime noch einmal mit seinem Schreiben in die Quere kommen.

Auf der Homepage Thomas Bergers erfahren wir, dass er mit der Ausarbeitung eines Essays über den Dichter Stefan George beschäftigt ist. Es ist zu wünschen, dass diese Arbeit bald veröffentlicht wird.

 

Die Essayistik Thomas Bergers umfasst weitere Gebiete außer der Poesie, zu der ich hier nur wenige Beispiele genannt habe. In der Philosophie ist Thomas Berger ebenso unterwegs, ich will als Beispiele anführen den Essay „Ethik auf schwankendem Grund“, das Buch über Albert Camus sowie die Publikation „Im Angesicht der Finsternis“.

„Ethik auf schwankendem Grund“ trägt den Untertitel „Erwägungen im Spannungsfeld zwischen Sittlichkeit und Freiheit“. Der Essay ist erschienen im renommierten online-Magazin „tabularasa. Zeitung für Gesellschaft und Kultur“. Im ersten Teil „Ausprägungen des Idealismus“ werden Platon und Aristoteles, Kant und Schiller mit ihren ethischen Positionen vorgestellt und einer gelinden Kritik unterzogen, weil ihre Ethiken weniger am Menschen selbst orientiert seien, sondern an vorgestellten Idealen, denen die sittlich integre Persönlichkeit entgegenzustreben hätte. Den Denkern Schopenhauer und Jürgen Habermas werden unter Punkt II „Schritte zur Empirie“ attestiert, was bedeutet, dass das vorgestellte Ideal der vorher genannten Philosophen abgeschwächt wird zugunsten lebenswirklicher Aspekte. Tatsächlich klingt es schon ganz anders, wenn Schopenhauer als „Grund-Triebfedern der menschlichen Handlungen“ Egoismus, Bosheit und Mitleid anführt. Doch auch Schopenhauer bleibt als Kantianer der idealistischen Tradition verbunden, wenn er seine Willensmetaphysik zur Grundlage seiner Ethik macht. Thomas Berger spricht ihm deshalb nur „einen kleinen Schritt zur Empirie“ zu.

Anders sieht es bei Jürgen Habermas aus. Ethisch maßgeblich ist, was zuvor im herrschaftsfreien Dialog ermittelt worden ist. Die Ethik beruht bei Habermas mithin auf einer rein menschlichen Ebene. Trotzdem ist auch bei ihm ein idealistisches Konstrukt vorhanden: es besteht in der Forderung nach eben jenem herrschaftsfreien Dialog, der in der Praxis kaum anzutreffen sein dürfte, sowie der wahrscheinlich übertriebenen Annahme menschlicher Rationalität und Konsensbereitschaft.

Sympathien zeigt Thomas Berger für das Denken Thomas Hobbes‘. Dessen Grundüberzeugung, dass der Selbsterhaltungstrieb unweigerlich zu Feindseligkeiten führt und die Brüchigkeit menschlichen Wesens und menschlicher Verhältnisse offenbart, hat alle Illusionen über den Menschen abgelegt. Damit geordnete Verhältnisse und Frieden möglich sind – worin sich die Interessen aller widerspiegeln – muss von einem Herrscher wohltuender Zwang ausgeübt werden. „Allein staatliche Macht kann nach Hobbes archaische Verhältnisse verhindern“, schreibt Thomas Berger. „Dies gelte allerdings nicht für den Umgang zwischen einzelnen Staaten – bei diesem bleibe etwas von dem Naturzustand erhalten“, lautet der letzte Satz im Abschnitt über Hobbes. Ein Blick in ein beliebiges Nachrichtenportal belehrt uns über die Aktualität des Denkers Thomas Hobbes, der 1679 verstorben ist.

Keinem ausgestalteten ethischen Konzept, keiner normativ-ethischen Grundlegung folgt der Dichterphilosoph Albert Camus. Die positiven Figuren seiner Erzählwerke oder dramatischen Entwürfe handeln aus einer jeweiligen Lage heraus, in der sie ihrem inneren Stern gehorchen. Im kleinen Rahmen arbeiten sie am Werk der Mitmenschlichkeit, immer bedroht von der Bosheit anderer und der Absurdität der Verhältnisse. Camus war ein früher Kritiker ideologisch begründeten Herrschaftsanspruches, mochte er nationalsozialistisch oder kommunistisch daherkommen. Unbedingter Wahrheitsanspruch mündet nach seiner Auffassung in Inhumanität. Camus führt die antike Göttin Nemesis an, die nicht nur den Frevler mit Rache überzieht, sondern auch die Göttin des Maßhaltens ist. Maßhalten bedeutet, im Bereich des Menschlichen zu bleiben und die begrenzten Möglichkeiten zu akzeptieren, aber auch zu nutzen. Mit dem algerisch-französischen Philosophen und Literaturnobelpreisträger Albert Camus hat sich Thomas Berger viele Jahre lang beschäftigt, er hat ihm ein kleines Buch und mehrere Aufsätze gewidmet. Auch in den „Dichterspuren“ taucht er auf. Wir können davon ausgehen, dass sich Thomas Bergers eigenes Denken in Skepsis, Illusionslosigkeit und dem Sinn für den Anspruch und die Forderung der Gegenwart in Camus‘ Schriften wiederfindet. Die Gegenwart ist das Momentum der Wandlung – keine in Stein gemeißelten ethischen Konzepte passen darauf.

Im kulturphilosophischen Essay „Im Angesicht der Finsternis“, erschienen 1999, schlägt Thomas Berger eine Bresche für das Dunkle, Schwarze, Schlafende, Bewusstlose – lauter Stichwörter, die in unserer auf Helle, Bewusstheit und Leistung beruhenden, aufgeklärten und kapitalistisch strebsamen Gesellschaft eher als zweitrangig, wenn nicht schon mit Misstrauen betrachtet werden. Aber machen wir uns den einfachen Sachverhalt klar, dass das Tagesgeschäft nur dann erfolgreich gestaltet werden kann, wenn ihm ein erholsamer nächtlicher Schlaf vorausgegangen ist, und wir erkennen das dialektische Verhältnis der Abfolge von Nacht und Tag. Unter der Arbeitsmaxime, „das Wesen der regelmäßigen Abfolge von Licht und Dunkel“ zu erkennen und das bekannte, aber „dennoch fremde Geschehen“ dem Sinn nach zu entschlüsseln, breitet der Autor eine Kulturgeschichte der Menschheit aus, von Weltentstehungsmythen über Sigmund Freud bis zur bedrohlichen Helle und Durchleuchtung, die uns allen jetzt schon – und wie viel mehr in der Zukunft! – durch die Digitalisierung und Künstliche Intelligenz drohen. Die Helligkeit und Durchsichtigkeit haben – landläufig gesprochen – ihre Schattenseiten, aber der wahre Schatten der Verborgenheit weiß den Traum, den Zauber und das Geheimnis zu wahren. Was Thomas Berger im Essay auf der Sachtextebene dargelegt hat, beschreibt er im Band „Einkehr in die Nacht“, erschienen im Jahr 2000, auf lyrische Weise. Das Haiku-Buch enthält eine Fülle weiterer Denkanregungen und Sinnbilder zum Thema Nacht und Tag, Dunkelheit und Licht. Nur ein Beispiel sei angeführt. Auf Seite 88 finden wir den Dreizeiler:

 

„Der Sterblichen Trost,

nicht ewig lichtvoll zu sein

wie die Himmlischen.“

 

„Zauber“ – „Geheimnis“ – welche Bedeutung haben diese Begriffe bei den Erzählwerken Thomas Bergers? Im Mittelpunkt steht oft ein Protagonist, der sich gegen die Vereinnahmungsversuche der sozialen Umwelt auf der beruflichen oder privaten Ebene auf subtile Weise zur Wehr setzt. Subtil bedeutet, dass die Protagonisten ihre Selbstverteidigung geschickt inszenieren, dass sie den betroffenen Kolleginnen und Kollegen oder auch Familienmitgliedern nicht oder kaum bewusstwerden, jedenfalls nicht in der wahren Absicht. Was soll man auch auf der Arbeit denken von einem Kollegen, der stets pünktlich und pflichtbewusst ist und für jeden Mitarbeiter, falls es darauf ankommt, ein freundliches Wort findet? Allenfalls wäre zu bemerken, dass der Protagonist zu freiwilligen Kollegiumstreffen nicht erscheint und nach Dienstschluss rasch das Weite sucht, nämlich die Weite seiner privaten Interessen, die für ihn das Eigene und Eigentliche darstellen. Die Erzählwerke Thomas Bergers thematisieren fast alle das Stichwort „Entfremdung“, oftmals bezogen auf die Arbeitswelt, was Anklänge zu Marx weckt, im Unterschied zu diesem geht es den Bergerschen Protagonisten jedoch nicht um das Abenteuer einer gesellschaftlichen Revolution, sondern um die Erfüllung privat-eigener Wünsche. Gelingt wenigstens dieses Unterfangen; viel bescheidener und überschaubarer als die Marxsche Forderung nach der Weltrevolution, die – nebenbei bemerkt – oft genug in nationalen Anfängen auf groteske Weise schiefgegangen ist? Keineswegs immer, oder – vielleicht zur Hälfte. Auf Zwischentöne darf man sich bei Thomas Bergers Erzählungen einstellen.

In „Sommer sechzehn“ aus dem Band „Andernorts“, erschienen 2017, hofft der Gerbermeister Tristan Ignotus auf den Ruhestand von seinem über viele Jahre ausgeübten kräftezehrenden Handwerk. Er hat auch, als der Wunsch und die Sehnsucht nach Ausspannen und Losgelöstheit von den Pflichten des Broterwerbs ihn anwandeln, allen Grund, sein Ziel als realistisch und erreichbar zu erachten, doch dann – je näher das rettende Ufer für ihn rückt – macht ihm eine Krankheit einen Strich durch die Rechnung. „In seiner Schädelhöhle, ließ er sein Weib wissen, wüte ein zähnebleckender Bär. Nun waren seine Tage gezählt. Als er sich dem wilden Tier ergeben musste, vermochte er nur noch die Worte Sommer sechzehn, Sommer sechzehn zu hauchen, wobei ein Lächeln seinem entstellten Gesicht einen friedlichen Ausdruck verlieh“, heißt es am Schluss der knapp-pointierten Erzählung.

In der Erzählung „Der Naturaliensammler oder die Hinkehr“, erschienen im Band „Solopart“ aus dem Jahr 2014, wagt der nur als Protagonist bezeichnete Held den Sprung in die Freiheit. Er kündigt seinem Arbeitgeber und hält sich auch private Bekannte vom Hals durch Bekanntgabe eines mehrjährigen Auslandsaufenthaltes, den er in Wahrheit gar nicht antritt. Endlich nur das tun, was er will – das ist die Maxime, nach der er nun lebt: Naturalienpräparate neu beschriften, Studien anstellen, Fachmessen besuchen und Zusammenhänge entdecken. Darin, denkt er, liegt seine Seligkeit. – Ist es so? War der Schritt, von dem viele träumen, der richtige? Der Autor gibt nur Hinweise auf diese Fragen. Am Schluss der Charakterstudie heißt es, dass der Einzelgänger „eines Tages […] gebückt und abgemagert“ gefunden worden sei. Seine Behausung glich einem „wilden Durcheinander“, aber: „Der Naturaliensammler selbst machte in all der Wirrsal einen sonderbar heiteren Eindruck wie jemand, der sich nach langem Irren seinem Ziel zugekehrt hat. Er war nicht ansprechbar, aber seine Augen funkelten vielsagend.“

Wenn man den Stil eines Autors kennengelernt und sich damit angefreundet hat, freut man sich bei der Lektüre jedes weiteren Werkes über die Variation des Stils, der einem zusagt. Man befindet sich sozusagen auf vertrautem Terrain und kann dennoch neuer Elemente gewärtig sein. Unter Stil verstehe ich nicht nur Merkmale der Schreibart, sondern auch des Inhalts. Bestimmte inhaltliche Komponenten tauchen, wie schon angedeutet, in den Erzählungen Thomas Bergers häufig auf: der Einzelgänger, der Naturaliensammler. Auch in der Erzählung EisBlau, erschienen 1996, haben wir es mit einem Einzelgänger zu tun. Sebastian ist Lehrer, empfindet seinen Beruf jedoch großenteils als Bürde; oft genug verspürt er auf der Heimfahrt nach Unterrichtsschluss einen leichten Kopfschmerz, der seine übermäßige Beanspruchung deutlich macht. Dabei erledigt Sebastian seine Berufspflichten mit Akribie – auf dass er zu Hause möglichst wenig damit konfrontiert ist. Freude bereitet ihm der Unterricht, wenn er mit den Schülern diskutieren kann, wenn er merkt, dass ein Schüler oder eine Schülerin bereit zum Umdenken ist, zur Bereitschaft, alte Positionen aufzugeben und sich eines Besseren bewusst zu werden. Auch in seinen privaten Beziehungen bleibt Sebastian auf sich selbst bedacht. Eine Ehe oder feste Bindung, die Verantwortung für ein Kind oder mehrere Kinder lehnt er ab – oder anders gesagt: dazu sieht er sich nicht in der Lage. Sein Ziel stellt die Selbstbefreiung von allen Zwängen und Illusionen dar. Diesem Ziel strebt er durch Offenheit und Beharrlichkeit entgegen.

Die Erzählung „EisBlau“ – obgleich ein in sich abgeschlossenes Werk – lässt sich als Vorläufer des großen Romans „Der fremde Archivar“ verstehen. Dieses Buch, erschienen 2022, stellt nicht nur eine Charakterstudie eines weiteren Einzelgängers im Oevre Thomas Bergers dar, sondern kann auch als Lob des Alleinseins verstanden werden. In der Einsamkeit erfüllt sich Achims – so der Name der Hauptfigur – Bestimmung. Sie geht auf Betrachtung aus von Flora und Fauna, sinnt auf die Abfassung fachwissenschaftlicher Artikel – zu allem ist Ruhe und Abgeschiedenheit vonnöten. Der Roman gibt der Leserschaft zu denken, was die Hintergründe für Achims Status als Einzelgänger, wenn nicht Sonderling, darstellen. Muss der familiäre Hintergrund in Rechnung gestellt werden mit einem früh verstorbenen Vater und einer narzisstischen Mutter? Oder handelt es sich um eine Form des Künstlerseins, die Achim verkörpert? Der Künstler folgt seinem Genius und nimmt dabei wenig Rücksicht auf soziale Gepflogenheiten. A-sozial, d.h. ohne soziales Empfinden, ist Achim deswegen aber nicht. Nur möchte er – um einen Kinderausdruck zu gebrauchen – möglichst oft in seinem Leben „der Bestimmer“ bleiben. Die soziale Interaktion nutzt er dafür nach seiner Weise. Ein Beispiel stellen seine häufigen kurzzeitigen Klosteraufenthalte dar. Während die Klosteroberen darauf spekulieren, ihn bald zu den ihren zählen zu können, hegt Achim ganz andere Interessen und Absichten. Ihn lockt die Atmosphäre in den Klostermauern; wenn sie alt und dick sind, fühlt er sich von ihrer Geschichte und Würde geborgen; es lockt ihn die Möglichkeit zu noch größerer Besinnung, als er sie sonst pflegen kann; das einfache Klosteressen, die genaue Tagesordnung. Aber den religiösen Kern dieser äußeren Umstände lehnt er als Zweifler und Skeptiker ab. Die Stundengebete, das Selbstverständnis der Mönche, für die Welt zu beten und von übernatürlicher Liebe erfüllt zu sein, veranlasst ihn nur zum heimlichen Kopfschütteln. Zudem ist Achim wegen eines übergriffig gewordenen Priesters schon als Kind in Zweifel geraten über die Heiligkeit von Religion und Kirche. Natürlich gibt er diese Denkweise nicht kund. Die Maxime aus der Antike „Lebe im Verborgenen“ erfüllt ihn ganz. Die Verborgenheit ist mehr eine innere als eine äußere. Im Äußeren wahrt Achim – wie manche andere Figuren des Bergerschen Werkes – ein Pokerface, um sich innerlich möglichst große Freiräume zu sichern. Das betrifft auch sein Verhältnis zu Frauen. Er meidet sie nicht, aber er weiß auch um die besonderen Gefahren, die von ihnen ausgehen: die Bestrickung ist rasch verbunden mit juristischen und finanziellen Verpflichtungen. Wo also fühlt sich Achim zu Hause? Wo bedarf es keiner Verstellung und keiner Vorsicht? Der Roman nennt zwei Punkte: das Naturkundemuseum und die Beziehung zur Schwester Ulrike. Ich zitiere aus dem Buch, S. 94: „Sein Museum vermittelte Achim verlässlich den Seelenfrieden, der ihm, wenn er mit anderen Menschen zusammen war, verlorenzugehen drohte. Hier gab es nichts, was ihm zuwider war: kein langweilendes Geplauder, keine reißenden Redeströme, keine hektischen Bewegungen, keine Täuschungen. Sah er sich derartigen Verhaltensweisen anderer ausgesetzt, meldete sich regelmäßig sein Fluchtinstinkt, der ihm in hohem Maße zu eigen war.“ Mit der Schwester Ulrike verbindet Achim als einziges Familienmitglied eine große Vertrautheit. Alle seine sonstigen Vorbehalte weichen in ihrer Nähe. Der in die Jahre gekommene Achim setzt Ulrike als Erbin für seine Besitztümer ein. Doch dann stirbt Ulrike vor ihm bei einem Unfall. Erst verzweifelt Achim, schließlich ringt er sich dazu durch, im Andenken Ulrikes weiterzuleben. Der kunstvoll komponierte Roman stellt einen weiteren Höhepunkt im Schaffen Thomas Bergers dar. Ein eigensinniger, aber keineswegs widerspruchsfreier Protagonist Achim eröffnet einen großen Interpretationsspielraum.      

„Entfremdung und Hinkehr im erzählerischen Werk Thomas Bergers“ könnte ein Forschungsarbeit lauten. Sie würde die Stichwörter, die ich hier nur anreiße, im Einzelnen zu untersuchen haben. Ein Aspekt der Arbeit könnten die literaturgeschichtlichen Anklänge und Entsprechungen zum Realismus sein (Stichwörter wären der Einzelgänger, der Sonderling und Hagestolz), aber auch zum Biedermaier (Stichwort hier wäre die Suche nach Behaglichkeit im heimischen und naturkundlichen Kosmos).  

(Fortsetzung folgt)