Die einmalige Chance


Die einmalige Chance

Der syrische Binnenkrieg hat die „Achse des Widerstands“ gegen den „zionistischen Feind“ als Mogelpackung und die Helden dieses Widerstands als Betrüger und Tyrannen entlarvt. Darin bestehet eine einmalige Chance für den Frieden zwischen Israel und seinen arabischen Nachbaren.

 

Von Yassin Nasri

 

Bei aller Komplexität der syrischen Krise dürfen wir nicht vergessen, dass es sich bei dieser großen Tragödie ursprünglich um einen friedlichen Aufstand eines unterdrückten Volkes gegen seine Peiniger handelt. Erst die mühsamen Versuche des syrischen Diktators Bashar al-Assad, den Aufstand gewaltsam und mit äußerster Brutalität zu beenden, führten zur Spaltung der syrischen Armee und zur Fortführung des Aufstands mit militärischen Mitteln.

 

Seitdem hat al-Assad mit massiver Hilfe des Irans und auch Russlands nichts unversucht gelassen, die Rebellion gegen ihn in die Knie zu zwingen. Sobald er ein Gebiet an die Rebellen verloren hatte, begann er dieses pausen- und ziellos zu bombardieren. Auch vor dem Einsatz von Chemiewaffen und dem gezielten Aushungern der Zivilbevölkerung scheut er sich nicht.

 

Ob mit der kürzlich vereinbarten Feuerpause zwischen den syrischen Kriegsparteien das Ende dieses verheerenden Krieges eingeleitet wird, ist ungewiss. Ungeachtet dessen spricht man bei diesem Krieg heute von 470.000 Toten und 1,9 Millionen Verletzten. Der wirtschaftliche Schaden wird auf 225 Milliarden Dollar geschätzt. Viele der syrischen Städte sehen heute so aus wie Dresden im Februar 1945. Bilder aus den belagerten syrischen Gebieten zeigen hungernde Menschen, die Gras und Tierkadaver essen. Zahlreiche Menschen sind in Folge des Mangels an Nahrung gestorben, einige von ihnen sogar vor den Augen von UN-Mitarbeitern. Viele Syrer bezeichnen ihr Land heute als ein großes Konzentrationslager. Die seit letztem Sommer belagerte Stadt Madaja wurde von syrischen Aktivisten in „Syrischer Holocaust“ umgetauft. Nicht nur Syrer sehen Parallelen zu den Naziopfern – auch Barak Obama hat in einer am 15. Dezember 2015 gehaltenen Rede die syrischen Flüchtlinge mit den Holocaust-Überlebenden des zweiten Weltkriegs verglichen.

 

Die Kinder und Enkel der Holocaust-Überlebenden und die Opfer des „Syrischen Holocausts“ sind – geografisch gesehen – Nachbarn. Israel und Syrien haben eine gemeinsame Grenze. Die hungernden Städte Madaja, Darraja und Muadamija sowie das Ghuta-Gebiet, das 2013 unter dem Chemiewaffeneinsatz des syrischen Diktators litt, sind weniger als hundert Kilometer von dieser Grenze entfernt. Die tägliche und seit fünf Jahren andauernde Massakrierung eines ganzes Volkes vor den Augen der Weltgemeinschaft hätte in Israel eine Welle der Entrüstung, Solidarität und Empathie ausrufen müssen. Tat es aber nicht. Die Horrorbilder aus dem benachbarten Syrien lassen dem Anschein nach den jüdischen Staat und seine Bürger kalt. Zwar wurden im Laufe der Kriegsjahre mehrere hundert verletzte Syrer aus den Grenzgebieten in israelischen Krankenhäusern behandelt, aber damit hörte der Beistand auf.

 

Es wäre verständlich, wenn das kleine Land Israel jegliche Einmischung in einen unübersichtlichen Krieg verweigern würde. Aber Israel greift in regelmäßigen Abständen Stellungen des syrischen Machthabers und seiner Verbündeten an, sogar in Abstimmung mit Russland. Diese militärischen Eingriffe sollen offensichtlich eine Art Erinnerung oder Warnung sein, nach dem Motto: „Ihr könnt das eigene Volk niedermetzeln wie ihr wollt, aber kommt uns ja nicht zu nah.“

 

Man könnte meinen, Israel sei über die Selbstzerfleischung seines Erzfeindes nicht sonderlich traurig. Eine solche Haltung wäre nicht nur unmoralisch, sondern auch unklug. Denn sollten der Krieg in Syrien sowie der geopolitische Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran vorbei sein, würde der arabisch-israelische Konflikt wieder – und mit aller Wucht – an die Oberfläche gelangen. Dagegen würde die Anteilnahme und der Beistand Israels, zum Beispiel durch die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen oder durch die verbale Solidarität israelischer Politiker mit den Syrern, friedensstiftende Wirkung haben, die Syrer zähmen und dankbar stimmen. Aber die Apathie Israels sowie die unterlassenen Hilfeleistungen der Weltgemeinschaft haben das Misstrauen der Syrer gegenüber ihren jüdischen Nachbarn gestärkt. Das führt zu Spekulationen und Verschwörungstheorien. Diese drehen sich im Kern um eines: Hinter dem Abschlachten der syrischen Zivilbevölkerung durch den al-Assad-Clan und seinen Verbündeten stehen die USA und Israel als Drahtzieher.

Auch wenn die Nahostpolitik der Vereinigten Staaten desaströs ist, wird sie keineswegs mit der Absicht betrieben, Syrien und seine Bevölkerung zu vernichten – und schon gar nicht in Abstimmung mit Israel. Damit sind solche eher aus Verzweiflung entstandenen Verschwörungstheorien nicht nur absurd, sondern auch lächerlich. Zugleich machen sie deutlich, wie stark die nach Freiheit und Demokratie strebenden Syrer mit dem von al-Assad geschaffenen Dogma verwebt sind.

 

Die Syrer müssen für eine gewisse Zeit innehalten und sich die Frage nach der Quelle ihres Hasses auf Israel stellen. Stammt er nicht doch aus der Ideologieküche nahöstlicher Despoten, wie Gamal Abdel Nasser, Muammer Ghadafi, Sadam Hussein, Khomeini und schließlich al-Assad selbst? Zielte der Aufbau solcher Hassideologien nicht auf die Sicherung der Macht dieser Despoten? Wurde das Feindbild Israel nicht durch das al-Assad-Regime künstlich angeheizt, um das Volk hinter sich zu mobilisieren und um jeden Widerstand als Verrat gegen die arabische Sache abzustempeln und auszulöschen? Wurde die Bekämpfung des „zionistischen Feinds“ und die damit verbundene Notwendigkeit der Bereitstellung von Ressourcen nicht dazu missbraucht, die wirtschaftliche Miesere des Landes und das Versagen des Staates, für Wachstum und Wohlstand seiner Bürger zu sorgen, zu rechtfertigen? Haben al-Assad, Hisbollah und der Iran, die sich für Jahrzehnte als Beschützer der arabischen Bevölkerung vor dem „zionistischen Feind“ bejubeln und sich gern als „Achse des Widerstands“ gegen diesen Feind bezeichnen lassen, im syrischen Binnenkrieg nicht doch ihre Gewehre in Richtung dieser Bevölkerung gedreht und sie massakriert? In Anbetracht der äußersten Brutalität des al-Assad-Regimes, wäre es nicht an der Zeit, die Vorstellung von Israel als Feind grundsätzlich in Frage zu stellen? Leben die glücklichsten Syrer nicht doch im Schutz der israelischen Besatzung – auf den Golanhöhen im Schatten von Olivenhainen und ohne Angst vor al-Assad und seinen ballistischen Raketen und Fassbomben?

 

Die Syrer galten in der arabischen Welt schon immer als panarabische Romantiker. Aus dieser Perspektive heraus lässt sich ihre Haltung zu Israel sehr gut erklären. Inwiefern das Tragen einer panarabischen Brille heute noch zeitgemäß ist, mag bezweifelt werden. Das Debattieren darüber würde eine lange Abhandlung benötigen. Auf alle Fälle hat der syrische Binnenkrieg gezeigt, dass die Syrer mit ihrer Leidenschaft und ihrem Enthusiasmus für die arabische Sache allein stehen. Kein Mensch zwischen dem arabisch-persischen Golf und dem atlantischen Ozean ist seit dem Ausbruch des Krieges in Syrien auf die Straße gegangen, um für Solidarität mit den „arabischen Brüdern“ in Syrien zu protestieren. Mit Ausnahme von einigen Golfstaaten halten sich die arabischen Autokraten bei der Unterstützung ihrer „arabischen Brüder“ in Syrien zurück. Sie fürchten nichts mehr als die Entstehung eines erfolgreichen demokratischen Musterlands unter ihnen.

 

Auch Israel muss seine Haltung zu seinen Nachbarn überdenken und dem Spielen auf Zeit und vorgeblicher Neutralität ein Ende setzen. Die arabische Beschäftigung mit der syrischen Krise sowie mit den persischen Nachbarn verschafft Israel lediglich eine vorübergehende Verschnaufpause, aber keinen Frieden. Frieden mit den arabischen Autokraten, wie es mit Jordanien oder Ägypten der Fall ist, reichen nicht aus, ohne die Völker mit auf die Friedensreisen zu nehmen. Um nachhaltigen Frieden zu schaffen, muss Israel die Nähe zu den arabischen Völkern und den Schulterschluss mit ihnen suchen.

 

Auch wenn die heutige Nahost-Bühne von Chaos und endloser Gewalt geprägt ist, ist die Lage dort nahezu perfekt für den Anstoß einer neuen und auf nachhaltigen Frieden setzenden Politik: Durch die Aufnahme syrischer Flüchtlinge, durch das Bereitstellen von Hilfsmitteln für syrische Kriegsopfer und durch das Ausüben politischen Drucks auf internationaler Bühne zugunsten des syrischen Volkes. So könnte Israel die Herzen der Syrer gewinnen.

 

Auf arabischer Seite muss Israel die arabischen Ängste vor dem hegemonialen Bestrebungen Irans für sich nutzen. Laut einer Studie des israelischen Herzlija-Zentrums sehen 53 Prozent der Saudis die größte Bedrohung im Iran. Dass Israel der größte Feind sei, sagen lediglich 18 Prozent der Saudis. Im Rahmen derselben Studie sprach sich eine überwältigende Mehrheit von 85 Prozent der Saudis für die „Arabische Friedensinitiative“ aus. Die genannte Initiative wurde im Jahre 2002 von Saudi Arabien initiiert und im selben Jahr von der Arabischen Liga der Organisation Islamische Konferenz angenommen. Der Vorstoß sieht unter anderem den Rückzug Israels aus den 1967 eroberten Gebieten vor. Im Gegenzug würden alle arabischen Länder einen umfassenden Frieden mit Israel schließen.

 

Es ist erstaunlich, dass die Signale für den Frieden mit Israel aus dem konservativsten der arabischen und islamischen Länder stammen. Noch erstaunlicher – sogar revolutionär – ist die Tatsache, dass solche Signale auch von prominenter Seite kommen, wie z.B. vom saudischen Prinz und Medientycoon al-Waleed bin Talal. In einem Interview im Oktober letzten Jahres mit der kuwaitischen Zeitung al Qabas sagte er: „Im Falle des Ausbruchs einer neuen palästinischen Intifada werde ich mich auf die Seite des jüdischen Staates und seinem demokratischen Bestreben stellen. Ich werde auch alles, was in meiner Macht steht, tun, um jede bedrohliche Initiative von arabischer Seite, die zu einer Verurteilung Tel Avivs führt, zu verhindern.“

 

Die Versöhnungsbereitschaft Arabiens mit Israel lässt sich damit erklären, dass die größten Gefahren keineswegs von Israel kommen, sondern von der sogenannten „Achse des Widerstands“. Beweggründe Israels für einen Frieden mit den arabischen Nachbaren könnte die Erkenntnis sein, dass die Gunst der Stunde genutzt werden muss: Nie waren die Araber so schwach, so orientierungslos – und damit friedenswillig – wie heute. Das Aufrechterhalten des Status quo stellt dauerhaft keine Lösung für Israel dar und bedeutet lediglich das Verschieben der Auseinandersetzung auf die nächsten Generationen. Die Beweggründe beider Seiten für eine heutige Annäherung sind zwar nicht nobel, aber vernünftig.

 

Aber wie einst Immanuel Kant sagte: „ Der Friede ist das Meisterstück der Vernunft“ – es ist Zeit, dass die Vernunft in den Mittleren Osten einkehrt.

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