ENTDECKUNG IM MORGENGRAUEN


Thomas Berger

ENTDECKUNG IM MORGENGRAUEN

Es war ein Donnerstag in Achim Burgers dritter Urlaubswoche im Januar. Seit Tagen waren schwere Sturmböen über die Insel gezogen, die auf Nordfriesisch Söl heißt. Seiner Gewohnheit gemäß führte Achim  ̶ wir wollen ihn der Einfachheit halber fortan nur mit seinem Vornamen nennen  ̶  trotz des kräftigen Südwestwindes im Frühdämmer sportliche Übungen durch. Vor vielen Jahren hatte er sich ein Programm unterschiedlicher Bewegungsabläufe und gymnastischer Elemente zusammengestellt. Jeder Einzelübung hatte er eine Zahl zugeordnet, zum Beispiel Zwanzig oder Hundert. Still oder halblaut zählte er und hörte nicht auf, ehe das jeweilige Ziel erreicht war. Insgesamt dauerte die täglich bei Wind und Wetter im Freien unternommene Aktivität ziemlich genau eine Stunde.

Entsprechend der Jahreszeit war es an dem besagten Morgen noch dunkel. Nur von einigen Lampen des in nördlicher Richtung entlang der Düne an die Kurpromenade anschließenden Holzsteges fiel ein wenig Licht auf den Strandabschnitt der auslaufenden Wellen, den unser Frühsportler bevorzugte. Seine Augengläser, die er als Kurzsichtiger gewöhnlich trug, hatte er im Apartment gelassen, teils weil es wegen der Dunkelheit ohnehin kaum etwas zu sehen gab, teils weil er, in warme Kleidung gehüllt, wenigstens seinem Gesicht die belebende Frische der Meeresluft uneingeschränkt gönnen wollte.

Während er entlang des Wellensaums lief, erblickte er schemenhaft in der Ferne etwas Großes, Schwärzliches, das sich vom Schaum der Wogen abhob. An keinem anderen Tag hatte er ein derartiges Schattengebilde gesehen. Vielleicht, dachte er, ist es nur eine Täuschung, wie sie durch das Zusammenspiel von Dunkel und schwachem Licht leicht vorkommen kann. Aber die seltsame Erscheinung hatte sein Interesse geweckt, so dass er, das Zählen unbewusst einstellend, beschloss, auf sie zuzulaufen. Wäre es ein Trugbild gewesen, das ihn narrte, hätte es, als er allmählich näherkam, verschwinden müssen. Das geschah jedoch nicht, im Gegenteil: die Umrisse des rätselhaften Objektes traten deutlicher hervor. Bald hatte er die Stelle erreicht. Es war kaum zu glauben  ̶  im feuchten Sand lag vor ihm ein riesiges absonderliches Strandgut! Würde er davon jemandem erzählen, ging es ihm durch den Kopf, nähme man ihn gewiss nicht ernst. Aber es bestand nun einmal kein Zweifel: da lag ein mehrere Meter umfassender Metallkoloss! Er berührte vorsichtig das Ungetüm mit der Hand, als ob er sichergehen wollte, dass er nicht träumte, und lief um es herum. Es war offensichtlich lädiert, denn er konnte in das offene Ende schauen. Dort sah er ein Gewirr von Stangen und Kabeln. War es eine zur Erde gestürzte beschädigte Raumkapsel, fragte er sich. Oder hatte der starke Wellengang den metallenen Klotz von seinen Halterungen auf offener See losgerissen und in der Nacht an diesen Abschnitt des menschenleeren Strandes gespült? Und wozu mochte er draußen im Meer gedient haben? In Gedanken versunken stand Achim noch eine Weile an der Fundstelle. Dann versuchte er, um seinen Frühsport in bewährter Weise fortsetzen zu können,  sich zu erinnern, welche Übung er abgebrochen hatte, als ihm das schwarze Gebilde aufgefallen war. Ob es ihm gelang, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden.

Am nächsten Tag suchte Achim in verschiedenen Medien nach Berichten über das außergewöhnliche Vorkommnis und wurde rasch fündig. Es stellte sich heraus, dass das angetriebene gigantische gelbe Gerät eine etwa zehn Meter große Windmess-Tonne war. Sie stammte aus dem Umfeld eines Windparks im Küstenvorfeld der Nordsee und hatte den Zweck gehabt, das Windpotential zu ermitteln. In der Nachrichtenwelt kursierten rasch Aufnahmen von Touristen, die sich im Licht des Tages an dem angeschwemmten Gegenstand fotografieren ließen, von der unbrauchbar gewordenen sogenannten Windmess-Boje sowie von dem Tieflader und der Zugmaschine, die sie schließlich abtransportierten. Beim Anblick der Bilder lächelte Achim kurz. Er war ein wenig stolz, als Erster, wie er mit einigem Recht vermuten durfte, die Tonne entdeckt zu haben.