Auf Kassette gesprochen
Erzählung (Auszug)
Erstes Kapitel
Der Optiker beteuerte, dass mit der neuen Brille alles seine Richtigkeit habe. „Aber ich kann immer noch nicht lesen“, sagte meine Oma. „Vielleicht geht es mit einem Vergrößerungsglas“, meinte der ungefähr fünfzigjährige Mann, der in einem weißen Kittel stak. Er zog eine Lupe aus der Schublade seines Tisches. Meine Oma probierte es damit, doch auch die vergrößerten Buchstaben und Wörter verschwammen vor ihren Augen. Der Optiker warf mir einen besorgten Blick zu. Als ich mit meiner Oma den kurzen Rückweg zu ihrem Wohnhaus antrat, fühlte ich diesen Blick noch immer auf mich gerichtet.
„Weißt du was, Oma, ich spreche die Bücher, die du gerne liest, auf Kassette, dann kannst du sie hören!“
„Aber, Bub, ich kenn mich doch gar nicht aus mit Deinen Kassetten.“
„Es geht wie beim Radio, wenn du Nachrichten hörst: Stecker rein und raus – ganz einfach!“
Am Sonntag nach der Kirche begleitete ich meine Oma zu einem Bücherverleih ins Gemeindezentrum. Die Mitarbeiterin, eine ältere Frau, kennt meine Oma und ihren Lektüregeschmack gut. Sie legte ihr drei Erzählwerke auf die Theke, alle vom selben Autor und alle schon ein wenig schief und abgegriffen, mit den üblichen Signaturkürzeln auf den Buchrücken versehen.
„Ich kann’s ja gar nicht mehr lesen“, sagte meine Oma.
Die Mitarbeiterin blickte erstaunt drein.
„Aber mein Bub will die Bücher auf Kassette sprechen, dann kann ich sie hören, sagt er.“
Die ältere Frau hinter der Theke lächelte und sah mich freundlich an.
„Na, dann geh’n wir“, nickte ich.
Ungefähr ein halbes Jahr vor Ablauf eines sechsjährigen Internatsaufenthaltes hatte ich ein Zimmer im Haus meiner Großmutter bezogen, weil es in meinem Elternhaus mit einer Märchen-Stiefmutter und einem wegguckenden Vater nicht zum Aushalten gewesen war – nicht einmal in den Ferien oder auch nur an den Heimfahrwochenenden. Ich besuchte die Oberstufe des Gymnasiums in der Nachbarstadt. Im Internat hatte ich mit einem der Erzieher oft gesprochen über Bücher. Er hatte mir angeboten, unser Gespräch brieflich fortzusetzen. Dazu war jetzt die Gelegenheit gekommen. Am Montag, den 9. August 1976 berichtete ich ihm von meinem Einfall mit den Kassettenaufnahmen für meine Oma, schilderte meine anfänglichen Skrupel und Aufnahmeabbrüche bei jedem Versprecher und Räuspern, bis ich bereit gewesen sei, im Interesse meiner Großmutter Kompromisse zu machen. Auch erwähnte ich knapp den Inhalt der am gestrigen Sonntag gemachten Tonaufnahme:
„Der erste Text, nicht mehr als eine Erzählskizze, handelt von einem Jäger, der eine gehörige Wanderung zum nächsten Dorf unternimmt und dabei durch Wald und Wiesen streift. Im Nachbardorf trifft er sich mit anderen Jägern, sie spinnen, je später der Abend, ihr Jägerlatein, besonders von gefährlichen Auseinandersetzungen mit verruchten und hinterlistigen Wilddieben. Als der aufgehende Mond ein schwaches Licht auf die Wege wirft, macht sich der Jäger auf den Rückmarsch zu seinem Heimatdorf. Im nächtlichen Wald kriegt er ein mulmiges Gefühl. Schleichen nicht Wilddiebe durch die Gegend? Verrät nicht jedes Knacken im Holz, jedes Astschlagen ihren Tritt? Ist nicht schon aus unbekannter Richtung eine Büchse auf ihn gerichtet, und jeden Moment trifft ihn die tödliche Kugel? Der Jäger nimmt sein Gewehr von der Schulter, bringt es in Anschlag und geht unsicher weiter. Da taucht aus dem Nichts eine dunkle Gestalt vor ihm auf und bedroht ihn. Aber blitzschnell wird sie vom Jäger niedergestreckt. In höchster Aufregung eilt der Schütze davon … Erleichtert sieht er endlich sein Dorf in der Ferne. Zu Hause öffnet ihm der Vater die Tür. Erschrocken nimmt er den verstörten Ausdruck im Gesicht des Sohnes wahr. Der Jäger erzählt, was passiert ist. Mit ernster Miene hört der Vater zu und schickt ihn zu Bett. Morgen, in aller Frühe, will er mit ihm den Tatort besichtigen. Beim Zubettgehen und Einschlafen quälen den Jäger Gedanken, er könnte übereilt gehandelt und womöglich einen Unschuldigen, vielleicht einen Jäger wie ihn, der in seinem Revier nach einem Wilddieb Ausschau gehalten hat, getötet haben … Kinder, die durch ihn ihren Vater verloren haben; Eltern durch ihn ihren Sohn; eine Ehefrau durch ihn ihren Mann – elend fühlt er sich und fällt mit grausigen Gefühlen in einen unruhigen und kurzen Schlaf. Der Vater ist vor ihm auf den Beinen und weckt ihn. Die Tatortbesichtigung ergibt, dass der vermeintliche erschossene Unhold ein kleiner Baum mit einem merkwürdig abstehenden Ast gewesen ist, den der Jäger in der Dunkelheit mit einem auf ihn gerichteten Gewehrlauf verwechselt hat. Die Kugel des Jägers findet sich im Stamm.“
An meinen Mentor in der Internatsstadt schrieb ich noch:
„Ich will von dem Mann wissen, was nach der Entdeckung des kleinen Baums mit dem merkwürdig abstehenden Ast außer Erleichterung – wohl eher Erlösung – in ihm vorgegangen ist. Fragt er sich, wie er überhaupt in die Situation kommen konnte, die sein Inneres aufgewühlt hat und sein Leben aus den Fugen gebracht hätte? Ein Dialog wäre passend; etwa so:
Jäger: Angenommen, ich hätte wirklich einen Wilddieb oder – noch schlimmer – einen unschuldigen Menschen getötet, hätte ich mir wahrscheinlich Vorwürfe gemacht, dass ich das Treffen im Nachbardorf aufgesucht hatte.
Ich: Wären die Vorwürfe berechtigt gewesen?
Jäger: Wie meinst du das?
Ich: Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen dem Vorfall mit dem vermeintlichen Wilddieb und dem vorherigen Treffen mit den Jäger-Kollegen im Nachbardorf?
Jäger: Äußerlich gibt es den Zusammenhang der Chronologie. Vielleicht ist es sogar noch eine Äußerlichkeit, dass wir uns Wilddiebgeschichten erzählten und ich daraufhin auf dem einsamen Rückweg Angst bekommen habe. Aber das rührt andererseits auch schon am Kern der Sache.
Ich: Dass du Angst bekommen hast?
Jäger: Ja.
Ich: Machst du dir deswegen einen Vorwurf?
Jäger: Ich hätte mich besser kennen sollen, um entweder früher den Rückweg anzutreten – möglichst noch im Hellen – oder erst am anderen Morgen.
Ich: Man kann in etwas hineingeraten und sich an der einen oder anderen Stelle auch die Schuld dafür geben oder zumindest irgendeine Art von Versäumnis vorwerfen. Aber eigentlich weiß man nicht genau, wie es passieren konnte.
Jäger: Die Möglichkeit eines Angriffs durch einen Wilddieb war andererseits auch nicht auszuschließen. Im nächtlichen Wald konnte ich unmöglich den Sachverhalt prüfen.
Ich: In diesem Fall wäre es sogar gut gewesen, dass Du die wilden Geschichten im Dorf gehört hast.
Jäger: Warum?
Ich: Weil du gewarnt gewesen wärst und in Deiner Angst das Gewehr schon bereithieltst. Im Augenblick der Gefahr hätte jede Sekunde den Ausschlag geben können: du oder er …
Jäger: Tja … zu welchem Ergebnis sind wir nun gelangt?
Ich: Zugegeben: zu keinem eindeutigen.
Jäger: Außer dass man Glück braucht, um solche Situationen, wie ich sie erlebt habe, zu überstehen.
Ich: Glück hast Du gehabt: der befürchtete Wilddieb war nur ein kleiner Baum.
Jäger (lacht): Ja, das ist wahr.
Ich: Darf ich dich meiner Oma vorstellen?
Jäger: Deiner Oma?
Ich: Sie wohnt hier im Haus. Deine Geschichte habe ich ihr auf Kassette gesprochen. Jäger: Auf Kassette?
Ich: Komm, du wirst schon sehen.
Wir verließen meine kleine Wohnung, stiegen eine steile Treppe hinab und befanden uns im Innenhof. Der Jäger zeigte auf den nahen Turm der Gallus-Kirche, der sich leicht schräg gegenüber dem Haus meiner Großmutter auf der anderen Straßenseite in den Himmel streckt. Über eine Treppe gelangten wir zur Wohnung der Großmutter. Ich klopfte an die Tür. Kurz darauf erschien meine Großmutter und öffnete. Erstaunt blickte sie auf den Jäger. Ich hatte ihn ihr nicht angekündigt.
‚Das ist der Jäger aus der kurzen Geschichte, die du gehört hast‘, erklärte ich.
‚Wie ist er denn zu dir gekommen?‘, fragte meine Großmutter mit aufgerissenen Augen.
‚Durch die Literatur‘, antwortete ich achselzuckend, ‚aber es kann sein, dass er auch ganz rasch wieder verschwindet.‘
Meine Großmutter führte uns in die gute Stube und schaltete die Deckenlampe an. Nun war es der Jäger, der große Augen machte.
‚Wo brennt denn das Feuer?“, fragte er.
‚Es handelt sich um elektrisches Licht‘, klärte ich ihn auf.
‚Elektrisches Licht?‘, fragte er zurück.
‚Ganz recht. Um die Zeit des Ersten Weltkriegs hat das elektrische Licht Petroleum- und Gasbeleuchtungen abgelöst‘, fügte ich hinzu.
Der Jäger nickte ehrfurchtsvoll, fing sich dann jedoch wieder und sah mich an:
‚Wie kann ich dir noch zur Verfügung stehen?‘
‚Willst du mich vielleicht begleiten bei einem kleinen Ausflug zum Mainufer? Wir könnten dort sitzen, ein Feuerchen entfachen und einen Rotwein trinken, wenn Du magst.‘
‚Soll ich euch Frikadellen in Silberpapier einpacken, die könnt ihr in der Glut brutzeln?‘, bot meine Großmutter an.
‚Gerne!‘, sagte ich erfreut.
Der Jäger lächelte. Auch ihm schien es recht zu sein.
‚Dann geh ich zum ‚Peter Keller‘ und kauf‘ Hackfleisch‘, sagte ich.
Die Großmutter winkte ab.
‚Ich war heut schon da und hab‘ genug geholt.‘
Sie wandte sich an den Jäger:
‚Da haben Sie aber einen Riesenschreck gehabt, allein im Wald, und alles dunkel, oder?‘
Der Jäger lachte kurz und zustimmend.
Meiner Großmutter kündigte ich für den Abend die Aufnahme einer weiteren Erzählung an. Die Abend- und Nachtstunden waren meine produktivsten. Das Tageslicht ernüchterte mich. Alltägliche Pflichten konnte ich erfüllen – jedoch immer mit dem Gefühl eines Pegasus im Joche. Übrigens wollte ich es nicht bei den Aufnahmen belassen, wie es am Besuch des Jägers schon ersichtlich wird.
‚Jetzt gehst du erst einmal mit deinem Gast zum Main, und dann sehn wir weiter‘, meinte die Großmutter. ‚In einer halben Stunde könnt ihr die Frikadellen abholen.‘
Damit ging sie in die Küche und machte sich ans Werk.
Der Jäger sagte, er werde in einer halben Stunde wieder da sein, unten im Hof, wenn’s recht sei. Auf mein verblüfftes und halb mechanisches Kopfnicken hin war er verschwunden – von einer Sekunde zur andren. Ich schaute verdutzt, dabei hatte ich eben erst meiner Großmutter gesagt, dass der Jäger ‚auch ganz rasch wieder verschwinden‘ könne. Tatsächlich war er nicht nach draußen gegangen wie soeben meine Großmutter in die Küche gegangen war – er hatte sich urplötzlich meinem Blick entzogen. Erst nach einigen Augenblicken besann ich mich, weil ich mir sagte, dass ich Mut haben müsse, wenn ich nun in einer Welt lebte, wo sich die unerbittlichen Gesetze der Natur in Größen meines Spiels verwandelt hatten. War es nicht Zeit, dass ich eine Welt bewohnte, die nach meinem Geschmack war? Wenn es auch eine höchst gefährdete Welt war, in der alles verdorben werden konnte Knall auf Fall, wie die Jägersprache formuliert, so war sie keineswegs langweilig. Und kurz und gut: ich lebte jetzt in ihr.
Was sollte ich mit der halben Stunde anfangen, die im Raum stand. Mich auf die Couch legen und Fernseher gucken? Stattdessen ging ich über den Flur in die Küche zur Großmutter.
‚Bub?‘, sagte die Großmutter, als sie mich sah. Sie hatte Zwiebel geschnitten und rieb sich die Augen.
‚Wo ist der Jäger?‘, fragte sie.
‚Ich weiß nicht. Auf einmal war er weg. In einer halben Stunde will er wieder da sein, unten im Hof.‘
‚Aha‘, entgegnete meine Großmutter. Sie fragte nicht, was mein Satz ‚Auf einmal war er weg‘ bedeutete. Erfreut nahm ich es hin.
‚Soll ich dir helfen, Oma?‘, erkundigte ich mich, als meine Großmutter die erste rohe Frikadelle in Silberpapier wickelte.
‚Das geht schon, Bub. Aber auf die neue Geschichte auf der Kassette freu ich mich.‘
‚Ich sprech sie dir noch heute Abend drauf‘, wiederholte ich. ‚Und morgen kannst du sie hören.‘
‚Wenn du in der Schule bist.‘
‚Ja.‘
Den Kassettenrekorder, der bei meiner Großmutter auf dem Küchenschrank stand, hatte ich nur einen einzigen Tag besessen. Ich verwahrte ihn voller Stolz und Freude in meinem Pult im Studiersaal des Internats. Meine Kameraden staunten mit mir über das schöne Gerät der Marke Poppy CS – 516W. Vielleicht befand sich unter den staunenden Kameraden schon der spätere Dieb, denn als ich am folgenden Tag nach der Schule in den Studiersaal eilte und den Pultdeckel hob, war der Platz mit dem Kassettenrekorder leer. Alles Suchen half nichts. Der Internatsrektor informierte die Polizei, sie schickte einen Beamten, der unsrer Gruppe im Studiersaal ernste Fragen stellte und vor allem auch mich mit prüfenden Augen ansah. Aber es gelang dem Beamten nicht, den Dieb ausfindig zu machen. Erst der Nachfolger des Rektors sprach mich ein oder zwei Jahre später unerwartet auf den Vorfall an. Ich weiß noch, wo es geschah. Wieder war ich von der Schule gekommen und hielt mich an dem sonnigen Tag vor dem Mittagessen auf dem Freigelände des Internats auf. An der Ostseite des Hauses mit der Hauptpforte befand sich fast ebenerdig das Büro des Rektors. Das Fenster stand offen, der Rektor sah hinaus. Er tat sich auf sein Wissen etwas zugute und machte es ein wenig umständlich, als er die Angelegenheit zur Sprache brachte. Schließlich erklärte er, dass er den Dieb meines Kassettenrekorders kenne.
‚Wer ist es?‘, fragte ich.
Der Rektor wollte mir den Namen nicht sagen.
‚Meinen Kassettenrekorder kriege ich nicht wieder, oder?‘, vermutete ich.
‚Nein, das nicht ‘, bestätigte der Rektor.
Jetzt wäre es angebracht gewesen, wegen einer Entschädigung zu fragen – wenn der Rektor den Täter doch kannte!“ –, aber auf diesen Gedanken kam ich nicht oder spürte ihn nur in einer entfernten Region meines Kopfes und sprach ihn nicht aus. Es ist auch fraglich, ob mir eine Entschädigung gewährt worden wäre. Vielleicht war der Dieb schon nicht mehr im Internat. Wie auch immer: Ich verschaffe mir nun selbst eine Art Entschädigung. Meinen Kassettenrekorder der Marke Poppy CS – 516W aus dem Jahr 1972 nehme ich zusammen mit dem Kabel vom Küchenschrank meiner Großmutter. Ich will ihn für die geplante zweite Aufnahme am späten Abend rüber in meine kleine Wohnung tragen, als meine Großmutter fragt:
‚Wie machst du das mit dem Aufnehmen?‘
‚Ich drücke die Aufnahme- und Wiedergabetaste gleichzeitig, und dann sprech ich die neue Geschichte ins eingebaute Mikrophon ‘, antworte ich.
‚Oh Gott, ich versteh gar nichts‘, entgegnet meine Großmutter.
‚Das ist gar nicht so schwer‘, sage ich und lege den Kassettenrekorder wieder auf den Küchenschrank. Auch den Stecker stecke ich wieder in die Dose.
‚Guck mal, Oma. Gib mir mal deine Hand … deinen Zeigefinger. Hier spürst du eine Vertiefung bei der ersten Taste von rechts. Dann gehst du eine Taste weiter nach links, das ist die Wiedergabetaste. Drück die mal runter … Ein bisschen fester. Nicht zu fest, aber ein bisschen fester schon … So, jetzt hörst du die Geschichte mit dem Jäger. Wenn du nicht mehr hören willst, gehst du wieder mit dem Finger zur Taste rechts daneben, das ist die Stopp-Taste, die drückst du, und die Wiedergabe-Taste springt hoch, die Wiedergabe ist beendet.‘
Meine Oma guckt mich irritiert an. Sie weiß nicht genau, was ich von ihr will.
‚Komm, probier es mal selbst. Drück die Wiedergabetaste. Ja, hier die zweite von rechts. Du merkst es an den Vertiefungen. Es steht auch dran.‘
‚Ich kann’s ja nicht mehr lesen, Bub.‘
‚Aber so geht es ja.‘
‚Soll ich nicht mehr einfach den Stecker …?‘
‚Es wäre besser, wenn die Wiedergabetaste nicht die ganze Zeit gedrückt bleibt. Daran hab ich erst nicht gedacht. Aber wie gesagt: erst einmal reicht es ja völlig aus, wenn du nur diese beiden Tasten beherrschst, die Wiedergabetaste und die Stopp-Taste. Machs nochmal: drück mal die Wiedergabetaste, die zweite von rechts … Ja, genau! Und jetzt die Stopp-Taste! Prima! Das kriegst du morgen hin, Oma! Der Stecker muss natürlich drin sein, wenn du etwas hören willst.‘
Ich musste gar nicht auf die Uhr sehen, um zu wissen, wann der Jäger im Hof stand und auf mich wartete. Meine Großmutter hatte mir alles in eine Tasche gepackt: vier mit Silberpapier umwickelte rohe Frikadellen, eine Rotweinflasche, zwei Becher, ein Weißbrot, zwei Pappteller, Servietten und ein Päckchen Streichhölzer.
‚Danke, Oma. Bevor ich morgen losfahr‘, komm ich noch bei dir vorbei und bring dir den Rekorder.‘
‚Komm nicht so spät zurück vom Main. Vielleicht bist du auch zu müde, um noch die Kassette zu besprechen. Dann leg dich nur hin.‘
‚Nein, nein, das klappt schon. Gute Nacht, Oma.‘
‚Gute Nacht, Bub.‘
Meine Großmutter ging noch mit mir zur Wohnungstür.
‚Bis morgen, Oma!‘
‚Bis morgen, Bub!‘
‚Hättest du meine Geschichte auch so gelesen, für dich, meine ich, ohne Bezug zu deiner Oma?‘, fragte mich der Jäger, gleich als wir vom Hof aus dem Tor auf die Gasse getreten waren, die linker Hand zur Hauptstraße führt.
‚Ich lese das nur für meine Oma‘, antwortete ich.
‚Was meinst du, fesselt deine Oma an meiner Geschichte und wohl noch den weiteren Geschichten, die du ihr auf Kassette sprechen wirst?‘
‚Das kann ich ziemlich leicht beantworten‘, erwiderte ich, ‚in deiner Geschichte und wohl auch den anderen, die noch kommen, findet sie eine Welt vor, die ihr vertraut ist.‘
‚Stammt sie aus den Bergen, aus einer Bauern- oder Jägerfamilie?‘
‚Das nicht. Sie stammt aus dem Kleinbürgertum. Ihr Vater war ein Schuhmachermeister mit eigener Werkstatt und eigenem Geschäft.‘
Der Jäger – ich fragte ihn nicht nach seinem richtigen Namen; warum, weiß ich nicht – drehte sich an der Hauptstraße, die wir schon Richtung Pfarrer Münch-Straße zum Main betreten hatten, noch einmal um zum Großmutterhaus und zeigte auf die Frontseite im Erdgeschoss mit einer Tür, zwei Schaufenstern rechts und links davon, sowie einem Schild oberhalb der Tür: Schuhhaus Lauck.
‚Das Schuhgeschäft habt ihr noch.‘
‚Ja, es wird von der Schwester der Großmutter und deren Tochter fortgeführt‘, sagte ich.
‚Und die Werkstatt?‘
‚Ist, soviel ich weiß, nach dem Tod des Vaters der Großmutter …‘
‚Deines Urgroßvaters.‘
‚Ja … – aufgelöst worden‘, antwortete ich.
‚Wann war das?‘
‚Neunzehnhundertvierunddreißig oder -fünfunddreißig; genau weiß ich es nicht.‘
‚Lauck ist der Mädchenname deiner Oma?‘
‚Ja.‘
Wir gingen ein paar Schritte weiter auf der Pfarrer Münch-Straße. Die Frage des Jägers nach der Attraktivität seiner Geschichte und der anderen Geschichten für meine Großmutter war für mich noch nicht ausreichend beantwortet.
‚Die Berge kennt meine Großmutter entweder aus eigener Anschauung oder sonst natürlich von Bildern und Berichten. Ich muss sie das übrigens einmal fragen. Was das Bauerntum betrifft, so hat sie seit ihrer Kindheit Erfahrungen mit der Landwirtschaft als Nebenerwerb. Erst nach dem Tod meines Großvaters wurde das letzte Stück Land verkauft, das meine Großeltern noch besessen hatten. Ich erinnere mich, dass ich als Kind bei der Kartoffelernte helfen musste.‘
‚Hat dir die Arbeit gefallen?‘
‚Nein, Gartenarbeit oder Arbeit auf dem Feld hat mir schon als Kind nicht behagt … – Ja, und was das katholische Christentum betrifft, das in den Erzählungen und Romanen unseres Autors immer wieder eine Rolle spielt als wichtiger Referenzpunkt und in der Form der sogenannten Volksfrömmigkeit, so versteht es meine Großmutter vollkommen. Seit gut siebzig Jahren besucht sie regelmäßig den Gottesdienst in der Gallus-Kirche …‘
‚Wo wir dran vorbeigelaufen sind?‘
‚Ja. – Sie hat dort einen festen Platz rechts vom Mittelgang in einer der vorderen Bänke.‘