Unsichtbar


Unsichtbar

 

Quietschend rollte der Medikamentenwagen durch die schummrig beleuchteten Gänge. Die Patienten des Pflegeheimes schliefen endlich. Ruhe kehrte langsam ins Haus ein.

Müde schob die Pflegerin Monika das Wägelchen von Zimmer zu Zimmer, um die letzten Tabletten zu verteilen. Ihre Hände zitterten vor Erschöpfung, als sie dem gebrechlichen Herrn Sager den Becher hinstellte. Der Medikamentenverweigerer schnarchte demonstrativ die Wand an. Wie immer, würde er das Zeug wegschütten. Er traute weder den Ärzten noch dem Pflegepersonal.

Monika schlurfte seufzend in die Küche, um den verdienten Kaffee zu trinken. Den brauchte sie dringend. Der Tag war anstrengend gewesen und sie fühlte sich seit dem Essen merkwürdig. Wahrscheinlich hatte sie irgendeinen Virus erwischt. Sie nippte gedankenverloren am kärglichen Rest der lauwarmen Brühe. Die Gedanken rotierten im Kopf. Sie wusste, dass sie zu alt für den Job war. Ihre Energie reichte selten bis zur Hälfte des Arbeitstages. Das lag auch an den Einsparungen beim Personal. Trotzdem musste sie durchhalten, da sie mit ihrem Jahrgang keinen Job mehr fand.

Die Krankenschwester lehnte sich gerade gemütlich zurück, als einer der Patienten die Notfallklingel betätigte. Erschrocken schoss Moni in den Gang. Rot blinkte die Zimmernummer 305 auf der Tafel auf. Es war die Giftnatter, die sie wieder ärgern wollte. Wütend zog die Pflegerin eine Injektion auf. Es war jeden Abend dasselbe. Kaum machte sie Pause, störte sie dieses elende Weib mit Absicht.

Grimmig stürmte Monika ins Zimmer der Pflegebedürftigen. Heute würde diese Quälerei ein Ende haben.

Frau Hugentobler sass hämisch grinsend auf dem Bett, den Finger auf der Klingel.

Die Schwester packte grob den Arm der Dame. Entsetzt zuckte die Alte, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Panisch robbte sie auf den Knien davon. Aber die Krankenschwester war schneller. Sie versuchte, das Mittel der Flüchtenden in den Hintern zu jagen. Doch Monika kam nicht mehr dazu. Ein Schwindel erfasste sie, der sie beinahe von den Füssen riss. Die Nadel verfehlte die kriechende Kranke.

Die Betreuerin starrte verwirrt auf ihre Hand, die in Wellen zerfloss. Alles schien zu schmelzen, die Farben der Umgebung verschwammen. Die Frau liess die Spritze fallen. Auf dem Parkett öffneten sich willkürlich Krater, die sie zu verschlingen drohten. In weiter Ferne sah die Krankenpflegerin die offene Zimmertür. Mit letzter Kraft wankte sie darauf zu.

Rosie Hugentobler stand frierend im Gang. Vor ihr lag die Pflegerin, die über dem Medikamentenwagen zusammengebrochen war. Der Krach alarmierte die Nachtwache, die sofort den Arzt holte. Der kam jedoch zu spät. Monika lag inzwischen, mit starren Augen, tot auf dem Boden.

Die Angestellten wieselten hektisch herum, um die Leiche möglichst schnell wegzuschaffen. Inmitten des Gewühls tappte Rosie in die Küche und tauschte Monikas Thermokaffeebecher gegen ihren aus. Beide waren identisch.

Unsichtbar, von niemandem beachtet, watschelte die alte Dame ins Zimmer zurück. Die Betagte wusch die Medikamentenreste aus der Tasse, um sie dann frisch poliert auf ihr Nachttischchen zu platzieren. Es war so einfach gewesen. Zum Glück verweigerte ihr Nachbar, Herr Sager, seine Pillen. Gut greifbar warf er sie jeweils in den Abfalleimer.

Glücklich legte sich Rosie ins Bett. Monika würde ihr nie wieder eine Beruhigungsspritze reinhauen, um sie ruhig zu stellen. Nie wieder!

 

 

 

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