Wenn Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung zu einer Farce werden


von Yassin Nasri

Viele Unternehmen nutzen Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung lediglich zu Imagezwecken. Das muss sich ändern. 

 

Diesen Beitrag beginne ich mit dem Zitat: „Unser Ziel ist es, Ökologie, wirtschaftlichen Erfolg und soziale Verantwortung in Einklang zu bringen.“

 

Normalerweise werden Zitate überliefert, die mit einer gewissen sprachlichen Raffinesse Visionen, Tiefsinn oder Weitsicht ausdrücken. Dagegen handelt es sich bei der obigen Äußerung um einen gewöhnlichen und alltäglichen Satz, der abgedroschen wirkt und von jedem beliebigen Marketingleiter, Pressesprecher, Nachhaltigkeitsbeauftragten oder Chef eines kleinen Unternehmens oder großen Konzerns stammen könnte.

 

Als dieser Satz fiel, stand dessen Urheber auf dem Zenit seiner globalen Macht. Zwei Jahre danach zerbrach seine Macht am enormen Konfliktpotential, das genau in diesem vermeintlich „gewöhnlichen“ und „alltäglichen“ Satz steckt. Zu leichtsinnig werden seitens der Wirtschaft die Begriffe „Ökologie“, „Nachhaltigkeit“ und „soziale Verantwortung“ verwendet, ohne eine Aussage darüber zu treffen, wie ihre unternehmerische Entscheidung ausfiele, falls die Umsetzung ökologischer und sozialer Ziele zum Verfehlen ökonomischer Ziele führen würde.

 

Für Martin Winterkorn, ehemaliger Volkswagenchef und Urheber der Beitragsouvertüre, bestand der „wirtschaftliche Erfolg“ darin, durch Prozessoptimierung und maximale Kosteneffizienz aus seinem Unternehmen den weltgrößten Automobilhersteller zu machen. Das Ausstatten von Dieselfahrzeugen mit kostspieligen Abgasreinigungssystemen hätte Volkswagen am Erreichen dieses ehrgeizigen Ziels gehindert. In dieser Konfliktsituation wollte der Konzern weder auf die eigene Interpretation von wirtschaftlichem Erfolg verzichten noch von seinen ökologischen und sozialen Ansprüchen abrücken. Er beharrte darauf, Ökologie, soziale Verantwortung und wirtschaftlichen Erfolg sogar mit betrügerischen Mitteln und letzten Endes auf Kosten der Ökologie und der sozialen Verantwortung in Einklang zu bringen, was bekanntlich in den Dieselskandal mündete.

 

Das leichtsinnige und scheinheilige Bekennen zu Nachhaltigkeit ist industrie- und länderübergreifend. Während Pablo Isla, CEO des weltgrößten Modekonzerns Inditex, angibt, dass alle Entscheidungen, die sein Konzern trifft, unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit gefällt werden, wechselt die Fast-Fashion-Kette Zara, die zu seinem Modeimperium gehört, bis zu 24 Mal im Jahr die Kollektion. Und während die Online-Plattform, Amazon Smile, 0,5 Prozent ihrer Einkünfte an gemeinnützige Organisationen spendet, werden bei ihrem Mutterkonzern Gewinne in Niedrigsteuerländer in großem Stil verschoben.

 

Die Problematik besteht primär darin, dass Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung als trendartige Markt- und Kundenbedürfnisse behandelt werden, die es im Rahmen verschiedener kosmetischer (Marketing-) Maßnahmen mit niedrigem ROI-Wert zu stillen gilt. Die Implementierung und Umsetzung von Nachhaltigkeits- und CSR-Maßnahmen (CRS: Corporate Social Responsibility) dient in der Regel lediglich der Imagepflege eines Unternehmens und ist von der unternehmerischen Kernidentität und dem Leitbild abgekoppelt.

 

Gerade in einer Zeit extremer sozialer Ungleichheit, in der laut einer neulich veröffentlichten Studie die 45 reichsten Haushalte in Deutschland mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzen, ist die Verantwortungslosigkeit der Wirtschaft beim Umgang mit Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung nicht hinnehmbar und kann nur zu einer großen Enttäuschung und Frustration bei den Menschen führen. Die Menschen wenden sich an die Politik, die sich zunächst betroffen zeigt und verspricht, Unternehmen stärker in die Verantwortung zu nehmen, aber letzten Endes sich der Lobbyisten der Wirtschaft beugt und die Begriffe „Ökologie“, „Nachhaltigkeit“ und „soziale Verantwortung“ in einer ähnlich oberflächlichen Art, wie es in der Wirtschaft üblich ist, konsumiert. Als Reaktion darauf radikalisiert sich der Wähler und gibt seine Stimme extremen Parteien, was zu großen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schäden führt bis hin zur möglichen Untergrabung der Demokratie. Daran kann aber niemand Interesse haben, nicht mal die Wirtschaft.

 

Die Gefahren, die mit der fehlenden bzw. kosmetischen Übernahme von ethischer und sozialer Verantwortung verbunden sind, übersteigen die Aspekte der Umweltverschmutzung und Erderwärmung bei Weitem. Sie sind vielmehr von politischer und sozio-ökonomischer Natur und bedrohen die Gesellschaften in Deutschland und Europa, also dort, wo die Machtzentralen der Wirtschaft liegen.

 

Der Wirtschaft darf es aber keineswegs nur um die Abwendung von Gefahren gehen, sondern auch um die Verwertung von Chancen. Denn die Kunden von heute werden immer wachsamer und politischer. Laut einer neuen Studie wollen zwei Drittel der Verbraucher nicht, dass Unternehmen sich aus politischen und sozialen Themen heraushalten (Spout Social – adworks.com vom Jan 12, 2018). Eine weitere Studie belegt, dass 79 Prozent der Verbraucher es vorziehen, Produkte von sozialverantwortlichen Unternehmen zu kaufen (Studie der Economist Group – Okt 2017). Die Kunden von heute werden sich nicht mehr von einer CSR-Maßnahme abspeisen lassen, wie die Spendenaktion an Kinder in Afrika, während dieselben Kinder und deren Familien bei den Lieferanten des spendenden Unternehmens für Hungerlöhne schuften müssen. Die Chance, die Unternehmen heute haben, besteht also in der Annahme einer ganzheitlichen Betrachtung von Nachhaltigkeit und sozialer Verantwortung als unzertrennbare Elemente der unternehmerischen Identität und in der aktiven Teilnahme an der Entwicklung von Lösungsansätzen für die ökologischen und sozialen Probleme unserer Zeit – unabhängig von den unmittelbaren ökonomischen Interessen und nicht unbedingt mit einem direkten Bezug zur eigenen Branche, den eigenen Produkten, den Märkten und dem Kundenprofil.

 

Damit dieser Umdenk-Aufruf an die Wirtschaft nicht lediglich als intellektuelle Lektüre interpretiert wird und anschließend verhallt, möchte ich ihn mit einer konkreten Einladung zur Gründung einer sozio-ethischen Initiative untermauern. Den Kern einer solchen Initiative sollen Unternehmen bilden, die bereits über eine ganzheitliche ethische Unternehmensidentität verfügen, oder solche, die sich dem obigen Umdenk-Aufruf anschließen möchten.  Die Mitglieder der Initiative müssen sich auf eine unabhängige Ethikkontrolle durch Institutionen und Vertreter der Zivilgesellschaft einlassen. Darüber hinaus verpflichten sie sich, einen gemeinsam aufgelegten Sozial- und Innovationsfond zu finanzieren.

 

Für Verbraucher bedeutet das die Entstehung einer sozio-ökonomischen Gemeinschaft, die aus dem Zentrum der Gesellschaft kommt und sich der Kontrolle ökologischer und sozialer Unternehmen widmet – eine Art TÜV für Nachhaltigkeit – sowie der Entwicklung und der (Co-) Finanzierung sozialer Maßnahmen und der Förderung gesellschaftlicher Innovation. Für Unternehmen bringt das Mittragen einer solchen Initiative – über die moralischen und ethischen Aspekte hinaus – klare ökonomische Vorteile, die in der Stärkung der Unternehmensidentität, der Markenaufwertung, der Abgrenzung von Mittbewerbern und letztendlich der Kundengewinnung und -bindung liegen.

 

Damit werden Ökologie, wirtschaftlicher Erfolg und soziale Verantwortung in einer verantwortungsvollen Art und Weise in Einklang gebracht und miteinander versöhnt.

 

 

 

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