Werkstattbericht


Sieben Aufsätze plus zwei

Werkstattbericht, fragmentarisch

 

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Als Junge von elf Jahren schrieb ich Tiergeschichten auf einzelne Blätter, klebte sie zusammen und verwahrte sie in einer grünen Mappe. Die Mappe legte ich in das einzige abschließbare Fach, das mir als Schüler eines Internates zur Verfügung stand. Das abschließbare Fach befand sich als eines von vielen in einem Einbauschrank. Der Raum mit diesem Einbauschrank – ich kann heute kaum mehr sagen, wozu er genutzt wurde, außer als Zugang zu den abschließbaren Fächern. Aber eines weiß ich noch genau: Das abschließbare Fach war mein Tabernakel, und das Allerheiligste darin war meine grüne Mappe mit den zusammengeklebten Blättern voller Tiergeschichten.

Einer der Erzieher des Internats war Präfekt Schramm, den wir Schüler nur „den Prä“ nannten. Der Prä interessierte sich für meine Schreiberei, weniger für die einzelnen Geschichten, als vielmehr für meine Bemühung überhaupt; dass ich mich aus eigenem Antrieb dazu entschloss. Anerkennend blickte er auf die säuberlich mit Füllfederhalter und dünnem Filzstift beschriebenen Seiten und erkundigte sich von Zeit zu Zeit nach ihrem Fortgang. Im Internat lebten ungefähr einhundert Menschen, aber der Prä war der einzige, der Gedanken und Worte an meine Tiergeschichten verlor.

Zwei Jahre später schenkte ich den Tiergeschichten keine Beachtung mehr und schämte mich ihrer sogar als Produkte kindlicher Phantasie. Um diese Zeit zerriss ich die zusammengeklebten Blätter, die mir einst so viel bedeutet hatten. Nur die grüne Mappe hob ich noch auf, bis sie irgendwann unansehnlich geworden war und ich sie auch wegwarf.

Wieder war es nur der Prä, der den Verlust der Tiergeschichten registrierte. Er fragte mich einmal, ob ich sie noch besitze. Da musste ich ihm bekennen, dass ich sie zerrissen habe. Der Prä schwieg dazu, seine Geste und Miene sprachen jedoch für sich, und sie bedeuteten, dass ich eine Dummheit begangen hatte; mehr noch: dass ich einen nicht wieder gut zu machenden Schaden angerichtet hatte.

Im Juni ist der Prä dreißig Jahre tot. Noch länger ist es her, dass das Internat aufgelöst und vor allem im Innern vollständig umgebaut wurde. Der Raum mit dem Einbauschrank mit den vielen abschließbaren Schüler-Fächern ist verschwunden. Er besteht nur noch in meiner Erinnerung – die ich in Anspruch nehmen will! Ich führe den Prä dort hinein… – aber steht er nicht schon da und erwartet mich? Der Raum im Internat mit dem Einbauschrank mit den vielen abschließbaren Schüler-Fächern ist neu erstanden. Mein Fach – ich glaube, in der dritten Reihe von unten, das dritte oder vierte von links – ist geöffnet, der Schlüssel steckt im Schloss. Das Fach ist leergeräumt; meine Aufsätze liegen im Raum verteilt.

Der Prä lächelt. Er weiß, was ich alles zerrissen und zerstört habe im Verlauf von bald vier Jahrzehnten; mehr als nur Tiergeschichten auf zusammengeklebten Blättern! Und wie wenig habe ich im Gegenzug neu geschrieben und geschaffen! Sieben Aufsätze sind es bis jetzt nur; zwei sollen Ende dieses Jahres noch erscheinen.

Ich stehe auf unsicherem Grund. Was können sieben Aufsätze plus zwei, die Ende des Jahres noch erscheinen, schon bewirken? Sind sie nicht gänzlich ungeeignet, um den Prä gnädig zu stimmen und die Angelegenheit von einst mit den zerrissenen Tiergeschichten vergessen zu machen?

 

[…]

 

Der fünfte Aufsatz handelt von einem stillen Helden der deutschen Geschichte: Emil Darapsky. Dieser Aufsatz bildet zusammen mit dem sechsten über die jüngste Reichstagsabgeordnete für die KPD in der Weimarer Republik und frühe Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime, Franziska Kessel, eine gewisse Einheit. Ich sage „gewisse Einheit“, weil sie sich lediglich aus Anhaltspunkten für eine Schnittmenge ergibt. Die Unterschiede zwischen Emil Darapsky und Franziska Kessel liegen ebenso offen zutage.

Franziska Kessel und Emil Darapsky sind beide im Jahr 1906 im deutschen Kaiserreich geboren worden, Kessel in Köln, Darapsky in Mainz, haben aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nie ein Wort miteinander gewechselt und hätten bei einer zufälligen Begegnung wohl auch keinen Grund gehabt, einander über den Augenschein hinaus wahrzunehmen. Sie gehörten unterschiedlichen sozialen Schichten an, die sich in unterschiedlichen Überzeugungen und Lebensweisen reflektierten; hier die atheistische Proletariertochter, dort der katholische Bürgersohn; hier die Arbeiterin, dort der Akademiker; aber hier auch die quirlige und eloquente Reichstagsabgeordnete der Weimarer Republik, und dort der zurückhaltende, wenn nicht scheue Aushilfslehrer, der privat am liebsten Cello spielte und Adalbert Stifter las. Die Erfahrungen, die Franziska Kessel und Emil Darapsky mit der NS-Justiz machen mussten, nämlich Verfolgung, Verhaftung und Tod (Kessel in einer Zelle des Hessischen Landgerichtsgefängnisses Mainz am 17. April 1934; Darapsky am Galgen des Zuchthauses Brandenburg-Görden am 30. Oktober 1944), bilden die hauptsächlichen Anhaltspunkte für eine Schnittmenge. Aus der Retrospektive sind beide geeint im unverdienten Schicksal.

Wenige öffentliche Stätte bewahren ihre Namen: bei Franziska Kessel eine der 96 Gedenktafeln, die vor dem Reichstag in Berlin stehen und an Abgeordnete der Weimarer Republik erinnern, die in der NS-Zeit zu Opfern des Terrors wurden; außerdem Straßenschilder in Frankfurt am Main und Mainz; bei Emil Darapsky eine Gedenktafel an der katholischen Kirche Wöllstein sowie ein Bild und eine Kurzbiografie in der Laurenzikirche bei Gau-Algesheim, der zentralen Stätte für die katholischen Märtyrer des Bistums Mainz. Außerdem finden sich in Handbüchern biografische Abrisse…

 

Die Schreib- und Recherche-Arbeiten beider Aufsätze waren ganz verschieden. Zum Darapsky-Aufsatz regte mich der Lehrer aus B. an. Er nannte mir auch gleich die maßgebliche Literatur. In einer Publikation der Carl-Brilmayer-Gesellschaft (Die Märtyrer von Wöllstein, hg. von Heinrich Holtmann, Band 39/1996) werden die Lebenswege Darapskys und seiner Mitangeklagten vor dem Volksgerichtshof in Berlin (Anton Knab, 1878-1945; Josef Nikodemus, 1898-1983 sowie die Schwester Darapskys, Dr. Elisabeth Darapsky, 1913-1998) genau dargelegt. Was sollte ich dem noch hinzufügen?, fragte ich mich. Erst als ich mich einließ auf das Leben Emil Darapskys, fand ich eigene Worte, es zu beschreiben.

Als „stillen Helden der deutschen Geschichte“ bezeichne ich Emil Darapsky, weil er sich zu keinem Zeitpunkt von der NS-Hysterie anstecken ließ, obgleich er als Lehramtskandidat, der in den Staatsdienst gehen wollte, naheliegende Gründe wenigstens zum Mitläufer gehabt hätte.

Im Stadtarchiv Mainz sah ich die Referendarakten Darapskys und seiner Mitreferendare und Mitreferendarinnen durch. Die Darapsky-Akte unterscheidet sich von den anderen. Sie ist erheblich dünner, es fehlen die allgemeinen Beurteilungen und – sonst überall vorhandenen – Bemerkungen zur NS-Treue des Kandidaten. Der Grund für diesen Sachverhalt bleibt unerfindlich.

Die letzten sieben Schuljahre bis zum Abitur am Gymnasium zu B. verbrachte Emil Darapsky als Konviktsschüler in B. Die in M. lebende einzige Tochter Emil Darapskys, Ingeborg Ziegler, geb. Darapsky, wusste über diese Epoche im Leben ihres Vaters nicht genau Bescheid. Ich besuchte sie und überreichte ihr Band 44 der „Geschichtsblätter Kreis B.“ mit meinem Aufsatz über das frühe Konvikt.

Die Schriftleitung des „Archivs für mittelrheinische Kirchengeschichte“ lehnte den Aufsatz ab, gab jedoch einen Hinweis auf die „Mainzer Zeitschrift, Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte“, wo der Text in Band 109, 2014, erscheinen konnte – 70 Jahre nach der Ermordung Emil Darapskys durch die NS-Justiz.

 

In einer Abhandlung[1] des Historikers Axel Ulrich las ich zum ersten Mal den Namen Franziska Kessels. Die ehemalige Reichstagsabgeordnete der KPD sei im Hessischen Landgerichtsgefängnis M. „nach fürchterlichen Torturen“ ums Leben gekommen.

Wie sollte ich vorgehen, um mehr über Franziska Kessel zu erfahren? Meine Anfrage im Stadtarchiv Mainz führte zu keinem befriedigenden Ergebnis. Der damalige Fachberater für Geschichte an Gymnasien und Gesamtschulen in Rheinhessen, Hans Berkessel, nannte das „Archiv der KZ-Gedenkstätte Osthofen“; der Lehrer in B. erwähnte den „Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945“ in Frankfurt am Main. Diese beiden Hinweise erwiesen sich als sehr hilfreich, aber auch Besuche im Staatsarchiv Darmstadt und Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden; ebenso Anfragen bei Experten wie Dr. Axel Ulrich vom Stadtarchiv Wiesbaden; Dr. Wolfgang Form von der Universität Marburg sowie Daniel Baczyk vom „Darmstädter Echo“.

Das von Wolfgang Form und Theo Schiller herausgegebene Buch „Widerstand und Verfolgung in Hessen 1933-1945. Die Verfahren vor dem Volksgerichtshof und den Oberlandesgerichten Darmstadt und Kassel“, bearbeitet von Karin Brandes und Wolfgang Form listet Opfer der NS-Justiz nach hessischen Städten gegliedert auf. Unzählige Aufsätze wie der über Franziska Kessel (oder Emil Darapsky) könnten geschrieben werden. Ebenso wie das Volk mit Hakenkreuzfähnchen und Hitlergruß am Straßenrand jubelte, wenn der Führer im offenen Wagen vorbeifuhr, ebenso wütete die Gestapo im Volk und griff sich diejenigen heraus, denen nicht nach Hakenkreuzfähnchen-Schwenken und Hitlergruß zumute war.

Bei der Verfolgung der Unangepassten und Widerständler spielten Denunzianten oft eine maßgeblich-unrühmliche Rolle. Wohl auch bei Emil Darapsky, mit Sicherheit bei Franziska Kessel. Deutschland war zu einem Land der Denunzianten geworden. Ich erinnerte mich dabei eines Besuchs im Staatsarchiv Darmstadt, wo ich in einer Akte gelesen hatte, dass sich NS-Beamten über die Flut der „Anzeigen“ beschwerten und deren Berechtigung anzweifelten(!).

Emil Darapsky, ein stiller Held der deutschen Geschichte – und Franziska Kessel?

Sie besaß eine hervorragende Begabung und arbeitete sich aus einfachen, materiell teilweise dürftigsten Verhältnissen bis zum Abgeordneten-Sitz des Reichstages hoch; sie träumte vom „Prinzip Hoffnung“ und forcierte dabei auch den „Kältestrom“; sie war eine Wissbegierige; noch im Mainzer Gefängnis stellte sie einen Antrag, um Englisch lernen zu dürfen.

Das ehemalige Hessische Landgerichtsgefängnis Mainz in der Diether von Isenburg-Straße ist neuerdings umgebaut worden zum rheinlandpfälzischen Justizministerium. Die hohe Mauer, die früher den Blick auf das Gebäude nur teilweise freigab, ist verschwunden. Wenn ich beim Gang in die Stadt dort ab und zu vorbeikomme, schaue ich an den früheren Zellenfenstern hoch, die immer noch klein, aber nicht mehr vergittert sind, und denke an Franziska Kessel, die hinter einem von ihnen vor einundachtzig Jahren von der Gestapo ermordet oder in den Selbstmord getrieben wurde.

Der Aufsatz mit dem Titel „’Vorläufig bin ich noch in Einzelhaft’ – Franziska Kessel (1906-1934)“ erschien im Jahr 2014 in Heft 15 der „Mainzer Geschichtsblätter“, herausgegeben vom Verein für Sozialgeschichte Mainz e.V. – 80 Jahre nach der Ermordung Franziska Kessels durch das NS-Regime.

Nur ein paar Meter vom neuen Justizministerium entfernt steht das Schloss-Gymnasium. Einige Jahre lief ich dort als Lehrer Flure und Treppen ab und betrat Klassenzimmer – noch ohne Ahnung von Emil Darapsky, der an gleicher Stätte unter ungleich schwierigeren Bedingungen seine Referendarzeit absolvieren musste.

[…]

[1] Axel Ulrich: Zum politischen Widerstand gegen das „Dritte Reich“ in Mainz. In: Mainzer Zeitschrift. Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, Jg. 103, 2008, S. 215-229.

 

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