Wie es bröckelt und schwindet Erzählung, Teil 4


Wie es bröckelt und schwindet

Erzählung, Teil 4

 

Am nächsten Morgen stand ich nach dem Wecken um 6.50 Uhr auf und wartete, ob mich jemand nach den gestrigen Ereignissen fragen würde, dass ich noch einmal aufgestanden und hinausgegangen und erst nach einiger Zeit wieder zurückgekehrt sei usw. Nichts dergleichen geschah! Ich ging in den Waschraum, lief mit den andren zum Morgengebet in die Kapelle, anschließend in den Speisesaal zum Frühstück. Alles war wie immer. Auf dem Weg zum Studiersaal, wo ich meine Schultasche holen wollte, beeilte ich mich – würde das Buchgeschenk des Präfekten in meinem Pult liegen, wie er es gesagt hatte? Ich klappte den Pultdeckel hoch: Da lag das hellblaue Buch mit den beiden ineinandergeschlungenen Buchstaben H in Frakturschrift auf dem Einband. Ich nahm es in die Hand, öffnete den festen Deckel und entdeckte auf der Leerseite den Namenszug des Präfekten samt einer in römischen Zahlen geschriebenen Jahreszahl:

 

 

Es handelte sich also um sein Privatexemplar! Das war mir gestern Abend beim flüchtigen Durchblättern nicht aufgefallen. 1953 hatte er das Buch erworben – vor zwanzig Jahren! Ich sah auf das Titelblatt: „’Demian. Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend’ von Hermann Hesse. Suhrkamp Verlag vorm. S. Fischer Verlag 1949.“ Was die letzteren Angaben betraf, wusste ich nicht recht, was sie bedeuteten – aber stand auf meinem Taschenbuch „Unterm Rad“ nicht auch…?

„Was ist mit dir? Willst du heute nicht zur Schule gehen?“

Der Erzieher Rainer I. stand hinter mir – der unfreundlichste und unberechenbarste aller Erzieher des Hauses, dazu noch ein unbedingter Gefolgsmann des Rektors, dessen Anweisungen (und Anwandlungen) er ins Grobe übersetzt an uns Schüler – besonders die jüngeren – weitergab… Ich beeilte mich, in die Schule zu kommen. Aber die beiden Hesse-Bücher packte ich noch schnell in meine Tasche. Mit einem Seitenblick sah ich, dass Rainer I. im Zweifel war, ob ich die Bücher wirklich für die Schule brauchte, aber weil er im Zweifel war und es immerhin Bücher waren, brachte er doch kein Wort heraus.

In der Schule hatte ich in der Mathematik-Stunde eine Einsicht. Sie betraf weniger die Summe der Innenwinkel des Dreiecks, über die sich die Lehrerin ausließ, als vielmehr den illusionären Charakter meiner Erwartungen über künftige Einladungen zur Tischrunde des Präfekten. Die Einsicht stand in direktem Gegensatz zu meinem Wunsch, ja, meiner Gier, möglichst heute Abend wieder am großen runden Tisch im Studiersaal der Sekundaner mit dem Präfekten und den älteren Schülern zu sitzen, den Rauch des Pfeifen-Tabaks einatmen und über Bücher sprechen und reden hören zu können. Es würde nicht geschehen! So normal der Schulvormittag verlief, würde sich der gesamte Tag erstrecken, bis ich im Schlafsaal zu Bett liegen würde – und kein Gerold H. würde kommen und mich auffordern, ihm zu folgen.

Sollte mich das enttäuschen? Hatte nicht der Unterprimaner Galatus M. den Antrag gestellt, dass ich eine erneute Einladung erhalten sollte, und fand diese Einladung nicht allgemeine Zustimmung? Wann dies geschehen würde, war nicht gesagt worden, aber dass es geschehen würde – diese Zusicherung hatte ich doch immerhin selbst mit angehört! Außerdem lagen zwei Bücher in meinem Schulranzen, wovon ich eines erst zur Hälfte, das andere noch gar nicht gelesen hatte. Was also suchte ich heute Abend in der Tischrunde des Präfekten?

Beim Mittagessen wurde ich zum Nachrücker für einen erkrankten Schüler für den Trockendienst in der Küche bestimmt. Zu dritt mussten wir Besteck und Geschirr einer neunzigköpfigen Hausgemeinschaft abtrocknen, was die Mittagsfreizeit auf ein Minimum dahinschmelzen ließ. Ich hatte mich schon auf die Bücher gefreut, damit war es nun (fast) nichts. Nach dem Abendessen würde es das Gleiche sein: statt Freizeit Trockentuch-Schwingen. Wenn endlich neunzig Teller, Tassen, Untertassen, Schüsseln, Platten, Messer und Gabeln wieder getrocknet an Ort und Stelle lagen (im Besteck- und Geschirrraum zwischen Küche und Speisesaal), ertönte schon bald das Klingelzeichen zum Abendgebet in der Kapelle. Danach mussten wir Siebtklässler uns wieder im Studiersaal versammeln und letzte Vorbereitungen für den morgigen Schultag treffen.

Wenn ich an diesem ersten Tag nach dem gestrigen Besuch der Tischrunde den Präfekt oder die älteren Schüler gesehen hatte – auf Fluren oder im Treppenhaus – nickten sie mir zu und gingen weiter. Im Speisesaal, wo alle versammelt waren beim Mittag- und Abendessen, zeigten sie keinerlei besonderes Verhalten mir gegenüber, aber auch untereinander nicht, soweit ich es beobachten konnte. Ich wusste, was von mir verlangt war: mich einzufügen in die Normalität, die gleichwohl nicht mehr die gleiche war wie vor dem gestrigen Abend. Aber als ich zu Bett im Schlafsaal lag, stand ich nach ungefähr einer Stunde noch einmal auf und ging nach draußen. Auf dem Gang fragte mich die Aufsicht führende Frau H., was los sei.

„Ich will zur Toilette.“

Sie nickte nur und musterte mich.

Die Toiletten befanden sich auf dem gleichen Stockwerk wie der Studiersaal der Sekundaner und übrigens auch die kleine Wohnung des Präfekten, aber nach den Treppenstufen hätte ich am Ende eines Ganges nach rechts und nicht nach links gehen müssen. Ich wählte den falschen Weg.

Der Studiersaal der Sekundaner war dunkel, wie ich sofort sah. Ich schlich zur Tür, die üblicher Weise abgeschlossen war – das probierte ich nicht aus – und sah hinein: stumm reihten sich Pulte und Stühle aneinander. Da traf mich ein Blick, ich fuhr herum: Auf der anderen Seite des Ganges, an seiner Wohnungstür, stand der Präfekt.

„Entschuldigung!“ stammelte ich.

„Bitte“, antwortete er.

Schnell lief ich zurück zum Schlafsaal, beschämt und verwirrt. „Der Präfekt hält zu viel von dir“, höhnte es durch meinen Kopf.

 

 

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