„Die Natur war aber stärker“ –
Auguste L. (1912-2012), fünfter Teil
Das Gesuch Philipp W.s wurde am 18.10.1943 von der Oberstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main zunächst kurz und knapp abschlägig beschieden, wie eine handschriftliche Notiz ausweist:
„Ich sehe mich nach Prüfung des Sachverhaltes nicht in der Lage(,) weiteren(!) Strafunterbrechung zu gewähren(.)
Zwecks Vermeidung von Zwangsmaßnahmen hat Ihre Tochter der Ladung zum Strafantritt Folge zu leisten.“
Am 1.11.1943 sollte sich Auguste L. „zur Weiterverbüßung der Strafe […] im Frauenzuchthaus in Ziegenhain“ einfinden, wie eine Verfügung der Oberstaatsanwaltschaft vom 21. Oktober 1943 vorsah. Der Anwalt Auguste L.s gab nicht auf und sammelte eine gemeinsame Eingabe des Ortsbauernführers, Bürgermeisters und Ortsgruppenleiters von B., worin die Notlage der Familie geschildert und die Unversorgtheit der drei Kinder Auguste L.s „im Alter von 9, 7 bzw. 1 Jahr“ hervorgehoben wurde. Er selbst schloss sich am 26. Oktober 1943 „dem Antrage der Genannten an auf Gewährung weiteren Strafaufschubs für die Beschuldigte“ und schloss mit dem Satz: „Wie aus der objektiven Eingabe hervorgeht, dürften wohl dringende Gründe vorliegen(,) diesen Strafaufschub zu gewähren.“ Auch der Oberstaatsanwalt wollte nicht nachgeben, ließ sich von den eingereichten Stellungnahmen aber immerhin so weit beeindrucken, dass er die Landesbauernschaft Hessen-Nassau am 2.11.1943 um eine Stellungnahme bat, ob „die Anwesenheit der Verurteilten zur Fortführung des landwirtschaftlichen Betriebes unbedingt erforderlich“ sei. Die Antwort erfolgte am 15.11.1943: „Unter Rückgabe der mir mit Ihrem Ersuchen vom 2.11.d.Js. übersandten Akten […] teile ich mit, daß gegen eine Fortsetzung der Strafvollstreckung während der Wintermonate keine Bedenken bestehen.“ Am 10.12.1943 stellte sich Auguste L. wieder zum Strafantritt beim Frauenzuchthaus Ziegenhain.[1] Von dort aus schrieb sie am 5.3.1944 mit der Hand ein weiteres Gesuch[2] um Strafunterbrechung „an den Herrn Oberstaatsanwalt des Sondergerichts Frankfurt a/Main“ mit folgendem Wortlaut:
„Ich erlaube mir heute an Sie Herrn(!) Oberstaatsanwalt ein Gesuch wegen Haftunterbrechung einzureichen und bitte Sie Herrn(!) Oberstaatsanwalt es zu prüfen und mir es günstig zu beantworten. Wurde am 27. August verhaftet, am 21. Sept. 1942 zu einer Zuchthausstrafe von 2 Jahren verurteilt, die ich in der Strafanstalt Ziegenhain verbüße. Ich hatte während meiner Strafverbüßung Gelegenheit, über die schwere(!) meiner Tat nach zu denken(!) und weiß, daß ich unüberlegt gehandelt habe. Auf meinen Vater, der durch einen schweren Gehirnschlag seit 1939 leidend ist und dadurch die meiste Zeit das Bett hütet, lastet nun die Arbeit des Haushaltes, die Erziehung meiner 3 Kinder, im Alter von 2, 7 und 9 Jahren sowie die ganze Arbeit der 13 Morgen Landwirtschaft. Seit Mai 1943 habe ich ein 14jähriges Pflichtjahrmädchen, das noch selbst ein Kind ist und dieser Arbeit nicht gewachsen, zugeteilt bekommen, für eine volle Kraft. Vor allem jetzt im Kriege ist es doch sehr wichtig, wo jedes Stückchen Land ausgenutzt werden muß. Mein Vater kann diese Arbeit nicht mehr leisten und somit müßte unser Feld unbebaut liegen bleiben. Was ein großer Verlust für uns wäre. Denn es ist doch unsere Existenz, wovon wir uns ernähren müßen. Im Hinblick hierauf bitte ich den Herrn Oberstaatsanwalt mir doch meine Bitte wegen Haftunterbrechung ab 1. April den Sommer über bis 1. Oktober zu gewähren. Im voraus meinen besten Dank.
Auguste L.“
Ein Schreiben des Vorstands der Zuchthäuser in Ziegenhain vom 9.3.1944 an den Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main befürwortete Auguste L.s Gesuch. Die Verurteilte habe sich „hier weiter gut geführt und fleißig gearbeitet. Ihre Strafe ist bereits einmal in der Zeit vom 1.4.43-10.12.43 unterbrochen gewesen. Sollten dieselben Voraussetzungen für die Strafunterbrechung wie im Vorjahr vorliegen, befürworte ich die von der L. erbetene Strafunterbrechung.“
Die Stellungnahme der „Kreisbauernschaft Hessen-Nassau Nord-West“ (in der Organisation „Reichsnährstand Blut und Boden“) vom 21.3.1944 fiel dagegen negativ für Auguste L. aus. Zwar sei „für die Weiterführung des landwirtschaftlichen Betriebes und Haushaltes eine weibliche Arbeitskraft unbedingt“ nötig, weshalb „das Arbeitsamt gebeten“ worden sei, „für die Zuweisung einer entsprechenden weiblichen Arbeitskraft in diesen Betrieb unbedingt besorgt zu sein“[3], aber es „dürfte in dieser Strafsache eine zu große Milde und Güte nicht am Platze sein. Ich halte daher eine Strafmilderung in diesem Falle als nicht angebracht.“
Offensichtlich reagierte der Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main nicht auf die Zeilen des Vorstandes des Zuchthauses Ziegenhain vom 9.3.1944, so dass sich dieser am 25. April 1944 (mit Eingang bei der Staatsanwaltschaft am 3.5.1944) zu einer wörtlichen Wiederholung entschloss, versehen mit der Zusatzfrage: „Kann mit einer Strafunterbrechung der L. gerechnet werden?“ Der Oberstaatsanwalt holte sich jedoch – außer bei der „Kreisbauernschaft Hessen-Nassau Nord-West“ – weitere „Stellungnahmen“ ein, was die Haftunterbrechung Auguste L.s immer wieder verzögerte. Der Landrat in L., hier vertreten durch das Kreisjugendamt, sprach sich im Interesse der drei Kinder Auguste L.s am 3.6.1944 sogar für einen Teilerlass der Strafe aus:
„Die Witwe L. hat bisher den Haushalt ihres Vaters geführt, da dessen Ehefrau verstorben ist. Seit der Strafverbüßung ist der Haushalt frauenlos. Da drei Kinder vorhanden sind und eine ständige Hilfskraft nicht zur Verfügung steht und auch nicht zu erlangen ist, sind die Kinder nur unzureichend versorgt. Hin und wieder sieht eine Schwester der Frau L. in dem Haushalt nach dem Rechten. Sie kann aber nicht ständig den Haushalt führen, da sie selbst anderwärts tätig sein muß. Die für den Bezirk zuständige Gesundheitspflegerin kann auch nur alle drei bis vier Wochen einmal in das Haus kommen. Eine Gemeindeschwester ist in B. nicht vorhanden.
Dieser Zustand wirkt sich gerade jetzt in den Sommermonaten, wo viel Arbeit in der Landwirtschaft ist und alle Kräfte im Dorf angespannt sind, sehr nachteilig für die Kinder aus. Für längere Zeit ist dieser Zustand unhaltbar. Zur Sicherung einer richtigen Pflege und Erziehung der drei Kinder wäre es deshalb sehr erwünscht, wenn Frau L. baldigst im Gnadenwege ein Teil der Strafe erlassen würde,(!) und sie bald wieder zu ihren Kindern käme.“
Am 25. Juni 1944 war es so weit: Auguste L. wurde um 5.30 Uhr aus dem Zuchthaus Ziegenhain zu ihrer Familie in B. beurlaubt bis zum 3.1.1945.
[1] Anscheinend hatten die Gesuche des Anwalts und des Vaters Auguste L.s aufschiebende Wirkung auf den Wieder-Strafantritt, der ursprünglich schon am 1.10.1943 hätte erfolgen sollen.
[2] Auch der Vater Auguste L.s, Philipp W., hatte am 14.2.1944 wieder ein Gesuch um „Erlass der Strafe“ oder „zum mindesten […] einen längeren Strafaufschub“ bei dem Landgericht Frankfurt am Main eingereicht. Schon auf ein früheres Gesuch hin „An den Herrn Gauleiter Sprenger“ (Jakob Sprenger, 1884-1945) vom 1.12.1943 hatte der „Gauleiter“ dem Oberstaatsanwalt in Frankfurt am Main beschieden: „Ich sehe hierseits keinen Anlaß, das Gesuch zu befürworten. Ein solcher würde von der Bevölkerung nicht verstanden werden.“
[3] Die „weibliche Arbeitskraft“ wurde nicht gefunden; sie diente als „Beruhigungs- und Entlastungs-Hypothese“ für die NS-Stellen, um die ideologiegeleitete Ablehnung oder Verzögerung der Gesuche Auguste L.s, ihres Vaters Philipp W. und Rechtsanwaltes Joseph Hilf zu rechtfertigen. Auch das Kreisjugendamt in L. gab sich in einem Schreiben vom 5.5.1944 „An das Sondergericht beim Landgericht in Frankfurt/Main“ solchen Projektionen hin: „Wegen der Versorgung der Kinder ist das Erforderliche veranlasst. Das ist für die Sommermonate, wo viel Arbeit in der Landwirtschaft ist, schwierig, wird sich aber eine Zeitlang ermöglichen lassen.. Da 3 Kinder zu versorgen sind und eine Frau im Haushalt fehlt, ist die für den Bezirk zuständige Gesundheitspflegerin beauftragt, den Haushalt des öfteren nachzuprüfen und hierher Nachricht zu geben, wenn eine Vernachlässigung oder Verwahrlosung der Kinder eintreten sollte. Die notwendigen Massnahmen werden dann von hier getroffen. Bezüglich der landwirtschaftlichen Arbeiten muss von dem Ortsbauernführer durch Anordnung von Gemeinschaftshilfe dafür gesorgt werden, dass die Äcker bestellt werden, wie das auch für die Betriebe von eingezogenen Landwirten geschieht.“