Rezension


Rezension

Volker Gallé (Hrsg.): Germanische Mythologie und Rechtsextremismus. Missbrauch einer anderen Welt. Worms 2015, 149 S., 16,50 €.

 

Die germanische Mythologie mag den meisten Deutschen nur von Ferne bekannt sein; weniger jedenfalls als die griechischen Helden Achill und Odysseus, die schöne Helena oder die Gesänge der Sirenen. Unter Rechtsextremisten bilden Odin, Thor oder die Walküren, welche die auf dem Schlachtfeld „ehrenvoll Gefallenen“, die Einherjer, zu Odin nach Walhall führen, dagegen ein Identifikationsmuster. Mit entsprechenden Namen, Zeichen, Symbolen, Wappen, Ritualen, Zahlencodes, Kleidung und Musik „erkennt“ und produziert man sich nach innen und grenzt sich gegen die Außenwelt ab. Die verschiedenen Aspekte dieses Phänomens im Rechtsradikalismus wurden auf einer zweitägigen offenen Tagung im November 2013 in Worms und der Gedenkstätte KZ Osthofen referiert und mit dem Plenum und auf Workshops diskutiert. Volker Gallé gab als Kulturkoordinator der Stadt Worms im Januar 2015 den dazugehörigen Tagungsband heraus.

Im Eröffnungsbeitrag spricht Volker Gallé davon, dass er in den 70er- und 80er-Jahren seine „Beheimatungen reisend, lesend und musizierend in der keltischen Kultur Irlands und der Bretagne, in der indianischen Kultur der Navajos und der Irokesen sowie in der französischen Kultur“ gesucht habe, aber überall auch nach seinen eigenen kulturellen Wurzeln gefragt wurde, „nach Liedern, Geschichten, Erfahrungen, Selbstverständnis“ (S. 7). So habe er – von außen darauf verwiesen – sich intensiv mit seiner Geburtsheimat Rheinhessen beschäftigt.

Das heimatkundliche Interesse führte ihn zur Unterscheidung des Volksbegriffs nach einer republikanischen und völkischen Interpretation. Die völkische Interpretation durch den historischen Nationalsozialismus habe beinahe eine Tabuisierung alles dessen zur Folge, was mit Wörtern wie „Heimat“, „Volk“, „deutsch“ usw. verbunden sei. Damit würden diese Bereiche den Rechten überlassen. Volker Gallé weist jedoch auf freiheitliche Traditionen der deutschen Geschichte hin, welche die „Frage von Neubestimmungen und –erzählungen von deutscher Identität und germanischen Sinnbezügen“ (S. 18) rechtfertigen. „Wichtig erscheint mir, dass offenbar eine ungebrochene, wenn auch be- und verdrängte Linie von der deutschen Aufklärung im Sturm und Drang über Vormärz und Romantik und die Arbeiterbewegung bis in die Weimarer Republik besteht, in der die republikanische Utopie Deutschlands in Bezug zu germanischen, indianischen und französischen Narrativen gesetzt wird“ (S. 12).

Georg Schuppener arbeitet die Schnittmenge zwischen historischem Nationalsozialismus und heutigem Rechtsextremismus heraus. Dazu gehört nicht nur die Unterscheidung zwischen „Ariern“ oder der „Herrenrasse“ und „minderwertigen“ Rassen, sondern auch der Widerhall germanisch-nordischer Mythologie. „Macht, Gewalt, Kampf, Stärke, Überlegenheit und Männlichkeit […] der alles zerschmetternde Thorshammer“ (S. 27) üben auf gefährdete Adoleszenten starke Anziehungskraft aus und bedienen omnipotente Sehnsüchte. Die Abgrenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft ist fundamental: Demokratie und Christentum („Odin statt Jesus“) sollen beseitigt werden. Das Deutungs-, Handlungs- und Identifikationsmuster der germanischen Mythologie wird dazu eigeninterpretiert, umgedeutet und „passend“ gemacht. Gerade weil eine breitere gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der germanischen Mythologie fehlt, können Rechtsextreme darüber Deutungshoheit beanspruchen und sie als Privileg betrachten.

Auch Rudolf Simek betont in seinem Beitrag über „Germanische Mythologie – Forschungsstand und aktuelle Rezeption am Beispiel der rechten Szene“, dass der Missbrauch der germanischen Mythologie durch Rechte in der Öffentlichkeit kaum auffalle. Er bringt dies in Zusammenhang mit der fehlenden Rezeption wissenschaftlicher Erkenntnisse, welche die rechten Deutungsmuster – etwa die Einheitlichkeit germanischer Mythologie und Religion – destruieren. Rudolf Simek führt dazu in streng wissenschaftlichem Duktus eine Reihe von Forschungsergebnissen an, etwa die Zurückweisung der beiden Werke der „Edda“ als einer „authentischen Quelle oder gar genuinem Zeugnis nordischer vorchristlicher Religion“ (S. 39).

Burckhard Dücker beschäftigt sich mit dem „Traditionsrahmen aktueller Symbole“ und den „Ritualen rechtsextremer Formationen“. Das NS-Reich gilt als Referenzzeit bei der Verwendung der Fraktur-Schrift (unbekümmert darum, dass ein Rundschreiben der Reichskanzlei vom 3. Januar 1941 ein Verbot aussprach) oder bei Gedenkmärschen, deren Ablauf den alljährlichen „Marsch auf die Feldherrnhalle“ durch Hitler und seine Anhänger imitiert.

Martin Langebach, Franz Josef Röll, Sebastian Winter und Ralph Erbar untersuchen in ihren Beiträgen den „klassischen“ Rechts-Rock; „Funktion und Bedeutung von Mythen für die Identitätsbildung von Jugendlichen“; sozialpsychologische Aspekte rechtsextremer Jugendlicher sowie das Thema „Germanische Mythologie und Nationalsozialismus im Unterricht“.

Der Tagungsband bietet trotz einiger inhaltlicher Wiederholungen einen fundierten Überblick zum Missbrauch der germanischen Mythologie durch den Rechtsextremismus und zeigt Möglichkeiten auf, „das Germanenthema anders zu erzählen“, wie es im Klappentext heißt.

 

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Erstveröffentlichung:

informationen. Wissenschaftliche Zeitschrift des Studienkreises Deutscher Widerstand 1933-1945, Nr. 83, Mai 2016, 41. Jg., S. 46f.

 

 

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